Den Rest des Vormittags hatten sie über andere Sachen gesprochen. Melli hatte ihr erzählt, dass David an Tonyas Geburtstag befördert wurde. Abends hatte er noch einen Anruf von seinem Chef erhalten, der ihm die Stelle als Abteilungsleiter anbot. Jetzt habe er die Verantwortung über die ganze Abteilung mit allen drei Schichten. Und sie erzählte auch, dass er dadurch fast doppelt so viel verdienen würde. Tonya freute sich für ihren Papa.
Max und Vicki hätten sich nun das kleine Häuschen in der Nachbarschaft gekauft. Im Moment würden sie es renovieren und ausbauen, denn Vicki würde so gerne endlich schwanger werden. Dafür aber müsste zuerst ihr Zuhause fertig sein. Deswegen würden alle Burmänner in ihrer Freizeit mithelfen.
Mark hatte gestern seine Mate gefunden. Dina sei ein Mensch, genauso alt wie Mark und erst neu mit ihrer Familie in die Unterstadt gezogen, hatte Melli erzählt, deswegen sei Mark nun bei ihr und ihrer Familie, um ihnen das Eingewöhnen und den Umgang mit den Werwölfen zu erleichtern.
Tonya sog alle Informationen über ihre Familie wie ein trockener Schwamm in sich auf, während sie ihrer Mutter half, das Mittagessen von Mara aufzuwärmen. Sie freute sich schon sehr, so wie früher mit ihren Eltern und ihren Brüdern am Tisch zu sitzen. Es war immer sehr lebhaft zugegangen wenn alle da waren. Meist waren es Tonya und Mark, die die ganze Familie unterhielten. Heute würde Tonya einfach nur dasitzen und es genießen, wenn ihre Eltern und Brüder von ihrem Tag erzählten.
Sie wäre gerne noch länger geblieben, aber kurz nach der Mittagspause standen Ben und Bodo mit dem Auto vor dem Haus und warteten auf sie. Tonya versprach so oft wie möglich wiederzukommen, dann stieg sie ein.
Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster, während sich in ihrem Kopf die unterschiedlichsten Gedanken stritten. Neben „Wo ist Hendrik und warum holt er mich nicht selbst ab?" drängten sich ihr auch die Fragen „Was war bei ihrer Geburt im Krankenhaus wirklich passiert?" und „Wohin ist Sienna so plötzlich verschwunden?" auf.
‚Frag doch einfach unseren Mate', meldete sich Yani.
‚Ach, hallo. Auch wieder da?', fragte Tonya erstaunt. ‚Und was bitte soll ich Hendrik fragen?'
‚Warum er dich nicht abgeholt hat', grinste Yani frech.
‚Er wird wohl seine Gründe dafür haben', wehrte Tonya schnaubend ab.
‚Und trotzdem bist du enttäuscht, dass er Ben und Bodo geschickt hat', kicherte Yani.
‚Weißt du was?', fragte Tonya genervt. ‚Du gehst mir mächtig auf den Keks mit deinen Sticheleien. Es ist mir sowas von egal, wo er sich rumtreibt.'
‚Oh, oh', spottete Yani. ‚Und schon hast du dich wieder selbst belogen. Und Tschüss.'
Ehe Tonya noch etwas erwidern konnte, hatte sich Yani schnell zurückgezogen. Dieses Biest macht es wirklich geschickt. Und dieses verflixte Biest kannte ihre andere Hälfte mittlerweile viel zu gut. Tonya schnaubte. Und ja, wenn sie eine Antwort auf diese Frage haben wollte, brauchte sie Hendrik nur zu fragen. Aber das würde sie nicht tun.
Die Fragen „Was war bei ihrer Geburt im Krankenhaus wirklich passiert?" und „Wohin ist Sienna so plötzlich verschwunden?" waren deutlich wichtiger. Doch ob sie jemals auf diese Fragen eine Antwort finden würde, bezweifelte sie stark.
Ihre Finger spielten mit der Kette. Sienna hatte ihr am Tag ihrer Geburt diese Kette umgelegt. Warum? Warum gerade ihr? War sie wirklich magisch? Gab es überhaupt Magie? Warum nicht?
Sie war ein Werwolf und aus den Chroniken der Stadt wusste sie, dass es hier auch mal Vampire gegeben hatte. Das war schon sehr lange her, so lange, dass niemand mehr lebte, der ihr das hätte bestätigen können. Mehrere Rudel hatten sich damals zusammengeschlossen und gezielt Jagd auf Vampire gemacht. Sie haben sie damals fast ausgerottet, so stand es geschrieben. Aber eben nur fast. Einigen wenigen Vampire wäre die Flucht gelungen und sie hätten sich sehr weit oben im Norden zurückgezogen. Ob das wirklich wahr war?
Doch wenn es Werwölfe gibt, was definitiv wahr war, denn sie war ja selbst einer, warum sollte dann die Existenz von Vampiren gelogen sein? Und warum sollte es dann nicht auch Feen und Elfen und Hexen und Magie geben?
Sie waren zuhause. Dieses Mal war Tonya so in ihren Gedanken versunken, dass Bodo schneller war und ihr die Autotür öffnete. Mit einem gemurmelten Danke stieg sie aus. Doch nach wenigen Schritten blieb sie stehe und drehte sich zu Bodo um.
„Wartet. Ich bin gleich wieder zurück."
Dann rannte sie los, hinein ins Haus, die Treppe hinauf in ihr Zimmer. In der kleinen Schublade an ihrem Schreibtisch lag die Kreditkarte. Sie schnappte sie und rannte wieder aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und aus dem Haus.
„Zum Antiquariat, bitte", bat sie ihre Bodyguards und stieg wieder ein.
Zwei Stunden lang stöberte sie in den Regalen nach Berichten aus alten Zeiten. Das Antiquariat hatte ein herrliches Archiv im Keller und sie war zum ersten Mal froh über ihren neuen Status, der ihr die Tür zu diesem Archiv öffnete. Sie hatte tatsächlich einige Berichte über Vampire und die Jagd auf sie gefunden. Sogar über Hexen war berichtet worden.
Sogar zum Zeitpunkt ihrer Geburt gab es noch einen Bericht über eine Hexe in den Wäldern des angrenzenden Niemandslandes. Niemand wusste ihren Namen, denn sie wurde von allen nur „die Hexe" genannt. In dem Bericht stand, dass sehr viele Rat bei ihr suchten, obwohl fast niemand sie wirklich verstand, denn sie redete nie Klartext sondern immer in Bildern und Geschichten. Niemand wusste, wo sie hergekommen war, sie war eben plötzlich dagewesen. Und genauso plötzlich war sie verschwunden.
Ob diese Sienna, von der ihre Mutter erzählte, auch eine Hexe war? Jedenfalls musste sie etwa zeitgleich mit der alten Hexe aus den Wäldern verschwunden sein. Oder war die alte Hexe aus den Wäldern Sienna? Wenn es Hexen gab und Magie, dann hätte sich die Hexe doch auch in eine jüngere Frau verwandeln können, oder nicht? Tonya suchte weiter, doch von da an fand sie keine Berichte mehr über Hexen.
Vielleicht würde sie im Archiv des Krankenhauses noch irgendwelche Informationen über Sienna finden, überlegte Tonya. Vielleicht hatte sie auch Glück, dass ihr neuer Status ihr auch dort die Tür öffnen konnte. Vielleicht befanden sich auch Hinweise in ihrer Krankenakte und einen Einblick in diese konnten sie ihr ja nicht verwehren. Sie wollte es jedenfalls versuchen.
Leider hatte sie im Krankenhaus keinen Erfolg. Nun ja, sie hatte keinen direkten Erfolg. Die Dame in der Verwaltung versprach ihr aber, am nächsten Tag ins Archiv zu gehen und alles herauszusuchen und zu kopieren, was ihre Person betraf. Sie würde Tonya anrufen, sobald sie alles zusammen habe, versprach die Dame.
Nachdenklich lag sie auf ihrem Bett und starrte zur Decke. Sie war gleich auf ihr Zimmer gegangen, Hunger hatte sie keinen. Nichts, was sie heute gehört oder gelesen hatte, hatte auch nur eine einzige ihrer Fragen beantwortet. Ganz im Gegenteil, es sind noch weitere Fragen dazugekommen. Und diese bildeten in ihrem Kopf einen großen Fragenknäuel, denn sie nicht entwirren konnte.
Sie war fast leblos zur Welt gekommen und dem Tod näher gewesen als dem Leben. Und am nächsten Tag strotzte sie vor Kraft und Lebenswille. Da musste Magie im Spiel gewesen sein. Aber warum? Warum ausgerechnet sie? Weil sie an diesem Tag das einzige Mädchen war, das zur Welt gekommen war? War dies wirklich der Grund, weshalb diese Sienna ihr geholfen hatte und ihr diesen Talisman gegeben hatte? Oder gab es noch einen anderen Grund? Und wenn ja, welcher?
Sie war müde. Fast wäre sie eingeschlafen, als ein anderer Gedanke sie augenblicklich wieder wach werden ließ. Wenn Hendrik heute Nacht wieder in ihr Zimmer kam und sie noch angezogen auf dem Bett schlafend vorfand, würde er sie ausziehen und ins Bett legen und sie würde es mit Sicherheit mal wieder nicht mitbekommen. Von Yani konnte sie auch keine Hilfe erwarten. Yani wartete doch nur darauf, dass er kam, damit sie sich an ihn schmiegen konnte. Dieses verräterische Biest.
Tonya würde wahrscheinlich nicht verhindern können, dass Hendrik sich still neben sie legte, aber sie würde besser gleich ihren Schlafanzug anziehen, sicher war sicher.
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Gehorche, Tonya.
Hombres LoboTonya wächst nur mit Brüdern auf und verbringt auch sonst ihre Zeit fast nur mit Jungs. Sie wird bald volljährig, aber einen Mate lehnt sie grundsätzlich ab. Ausgerechnet für sie hatte die Mondgöttin den jungen Alpha des Rudels vorgesehen, der si...