Tonya erwachte aus einer sehr unruhigen Nacht und bemerkte erstaunt, dass sie noch immer angekleidet auf dem Bett lag. Schlaftrunken rieb sie sich die Augen. Sie hatte geträumt. Sie hatte lauter wirres, unnützes Zeug geträumt. Doch kaum hatte sie ihre Augen geöffnet und sich aufgesetzt, wurden die Erinnerungen an ihre Träume von einer dunklen Wolke verschlungen. So sehr sie auch versuchte, sich an irgendetwas klares zu erinnern, es war umsonst.
Es fühlte sich so an, als ob ihr jemand die Tür zu einer Erinnerung an etwas aus ihrer Kindheit geöffnet hatte. Nur für einen kurzen Moment, dann hatte dieser Jemand die Tür wieder zugeschlagen, in dem Moment, als sie erwachte. Zurück blieben undeutliche Stimmen, die unverständliche Worte durcheinander schrien in einer komisch dunklen Umgebung. War es Nacht gewesen, oder hatte man ihr die Augen verbunden? Sie konnte es nicht sagen. Und ebenfalls zurück blieb eine Unruhe, die sie sich nicht erklären konnte.
Tonya blickte in den Spiegel. Sie hatte lange geschlafen und trotzdem sah sie müde aus. Also entschloss sie sich zu trainieren, so wie sie es immer tat, wenn sie nachdenken musste. Schnell machte sie sich frisch und zog Leggings, T-Shirt und eine dünne Sportjacke an. Dann schlüpfte sie in ihre Turnschuhe und band sorgfältig die Schnürsenkel zusammen. Vorsichtig öffnete sie die Zimmertür und lauschte. Alles war ruhig. Sie schnüffelte. Hier roch zwar alles irgendwie nach Hendrik, aber wäre er hier, würde sie seinen frischen Geruch nach Wald sehr viel deutlicher wahrnehmen.
Vicki hatte Recht gehabt. Der Geruch des Gefährten überdeckte alle anderen Gerüche. Jetzt, da sie volljährig war, konnte sie diesen Geruch wahrnehmen. Auch wenn es ihr nicht gefiel, dass Hendrik tatsächlich ihr Seelenverwandter war, schmeichelte ihr vor allem sein Geruch, der ausgerechnet dem Geruch entsprach, den sie über alles liebte.
‚Warum weichst du ihm immer noch aus', maulte Yani.
‚Halt die Klappe', schnaubte Tonya.
Es fehlte gerade noch, dass ihre Wölfin nun, da auch sie ihren Gefährten sicher erkennen konnte, zur läufigen Wölfin wurde und sie damit nervte.
‚Hey, nicht so mürrisch', forderte Yani sie auf. ‚Ich werde doch wohl anmerken dürfen...'
‚Nein', unterbrach Tonya sie, ‚darfst du nicht. Und wenn du mir jetzt die Ohren vollheulen willst, sperre ich dich aus. Und jetzt halte die Klappe.'
Beleidigt zog sich Yani zurück. Sie würde wiederkommen, immer wieder. Tonya wusste es, aber sie hatte ihre Wölfin im Griff und das würde auch zukünftig so bleiben.
Ohne weiter auf Yanis Grummeln zu hören, schlich sich Tonya auf den Flur hinaus und die Treppe hinunter in die Küche. Sie war tatsächlich allein. Seit Tagen schon hatte sie Mara nicht mehr gesehen, doch als sie den Kühlschrank öffnete, entdeckte sie einen kleinen Kuchen mit Schokoladenüberzug. Liebevoll aus Esspapier geformte Blumen lagen darauf, daneben stand mit weißer Zuckerglasur ihr Name geschrieben.
Tonya schluckte. Mara hatte ihr einen Kuchen gebacken. Aber da sie ja gestern bei ihren Eltern Kaffee trinken durfte und abends in der Stadt sich etwas zu essen gekauft hatte, hatte sie diesen Geburtstagsgruß nicht gesehen. Irgendwie tat ihr das leid. Mara hatte ihr in den letzten Tagen auch immer ein fertiges Mittagessen in den Kühlschrank gestellt, welches sie nur noch warm zu machen brauchte.
Vielleicht sollte sie morgen früher aufstehen und zum Frühstück herunterkommen. Aber dann würde wahrscheinlich auch Hendrik da sein und ihn wollte sie nicht sehen. Tonya machte sich einen Kaffee, schnitt sich ein großes Stück Kuchen ab und setzte sich zum Frühstück an den Tisch. Sie hatte auch Schreibblock und Stift in einer Schublade gefunden. Während sie frühstückte, schrieb sie ein paar Dankesworte, dann räumte sie auf und legte den Block für Mara gut sichtbar auf die Arbeitsfläche.

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Gehorche, Tonya.
LobisomemTonya wächst nur mit Brüdern auf und verbringt auch sonst ihre Zeit fast nur mit Jungs. Sie wird bald volljährig, aber einen Mate lehnt sie grundsätzlich ab. Ausgerechnet für sie hatte die Mondgöttin den jungen Alpha des Rudels vorgesehen, der si...