Mit einem ganzen Stapel Bücher auf dem Arm betrat Tonya das Alphahaus und stieg, ohne sich umzublicken, gleich die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Mürrisch folgte Milo und schleppte noch zwei schwere Taschen mit Büchern hinter ihr her. Dankend nahm sie Milo die Taschen ab und schloss die Zimmertür. Sogleich begann sie, die Bücher auszupacken und zu sortieren.
Über den Mondstein etwas zu erfahren, war ziemlich einfach. Sie fand wissenschaftliche Analysen über die Zusammensetzung des Mondsteines. Sie erfuhr auch, dass es unterschiedliche Mondsteine gab mit unterschiedlichen Färbungen. Aber die Bedeutung des Mondsteins erschreckte sie.
Es ist der Stein der Frauen und steht für Stärkung der Intuition. Er stärkt die Wahrnehmung von Gefühlen, unterstützt die Annahme der Weiblichkeit, hilft gegen Ängste.
Tonya schluckte. Sie war wie ein Junge aufgewachsen. Und dann hatte ausgerechnet sie diesen Stein gefunden? Noch nie hatte sie ein Mädchen sein wollen, eingeengt durch idiotische Verbote oder Vorschriften. Das ist nichts für ein Mädchen. Mädchen tun so etwas nicht. Solche Phrasen machten sie wütend, genauso wie dieses testosterongesteuerte Machtgehabe der Jungs und ihrem Besitzdenken.
Sie war mit vier Brüdern aufgewachsen. Klar liebte sie sie, aber sie waren stets auch Rivalen. So ziemlich in allem hatte sie sich mit ihren Brüdern gemessen, war sportlich mit bei den Besten, hatte sich für männliche Themen interessiert und war die erste auf dem Trainingsplatz, wenn es um Kampftraining ging. Körperlich schwanden ihre Chancen Jungs gegenüber immer mehr, aber sie war flink und wendig und sie hatte gelernt, dies als Vorteil zu sehen und damit zu punkten.
Und nun fand sie sich in der unliebsamen Position als Mate eines Alphas und hielt diesen Stein in der Hand, spürte seine Energie und fragte sich, warum sie diesen Stein nicht einfach im hohen Bogen wegwarf. Was war so besonders an diesem Stein, dass sie das Gefühl nicht loswurde, er habe eine Botschaft für sie. Nur welche?
Sie schüttelte kurz den Kopf. Das war jetzt nicht wirklich wichtig. Das mit dem Mondstein hatte noch Zeit. Viel wichtiger war ihr herauszufinden, was das für eine Münze war, den sie als Talisman geschenkt bekommen hatte.
Der Stapel mit den Büchern über alte und seltene Münzen wurde größer, als sie die zweite Tasche auspackte. Plötzlich fiel ihr Blick auf ein sehr altes Buch über Geschichten aus der Götterwelt. Woher kam dieses Buch? Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie es im Antiquariat in der Hand hatte, geschweige denn, dass sie es auch gekauft hatte. Wer hatte ihr das Buch in die Taschen gepackt und warum?
Neugierig betrachtete sie es. Es sah wirkliche sehr sehr alt aus und war bereits vergilbt. Sie setzte sich an den Schreibtisch und untersuchte das Buch sehr vorsichtig. Die Blattränder waren zum Teil brüchig, einige Blätter waren lose. Äußerst vorsichtig blätterte sie um und las dabei die Überschriften. Die Urgottheit Hydros. Gäa, die göttliche Mutter Erde. Nyx, die Herrin der Nacht. Und schließlich fand sie ein gefaltetes Blatt Papier. Auch dieses sah alt und vergilbt aus. Während die Schrift auf den Buchseiten selbst noch gut lesbar waren, war sie auf diesem Papier nur noch schwach zu sehen.
Irgendetwas in ihr veranlasste sie, die Geschichte abzuschreiben, sicherheitshalber, bevor das Blatt noch weiter vergilbte und die Schrift gar nicht mehr zu lesen war. Also legte Tonya das Blatt vorsichtig auf den Schreibtisch und griff nach einem Block und einem Stift. Dann fing sie an zu schreiben:
Zu Anbeginn der Zeit, als Gottvater gemeinsam mit Mutter Erde die Welt erschuf, erschuf er auch Sonne und Mond. So gegensätzlich Sonne und Mond in ihrer Art auch waren, sie waren Geschwister und sie liebten sich. Untätig verbrachten sie zunächst ihre Zeit in Müßiggang, so lange, bis Gottvater beschloss, ihnen eine passende Aufgabe in seiner großen Schöpfung zuzuteilen.
„Ich gebe allen Lebewesen Licht, damit sie sehen können", verkündigte die Sonne stolz.
„Ich sorge dafür, dass die Lebewesen in der Nacht ihre wohlverdiente Ruhe bekommen", erwiderte der Mond zurückhaltend.
„Ich strahle Wärme aus und verhindere, dass die Lebewesen erfrieren", brüstete sich die Sonne. „Würdest du ständig strahlen, würden die Lebewesen an Überhitzung sterben. Ich sorge für Abkühlung", widersprach der Mond.
„Ihr habt beide Recht", nickte Gottvater, „ich habe vor, sehr viele Lebewesen zu erschaffen, denen Mutter Erde ein Zuhause geben wird und dann werdet ihr beide gebraucht."
„Ist doch klar, dass ich da eine wichtigere Rolle spielen werde, denn schließlich habe ich was zu geben", behauptete die Sonne.
„Klar doch", gab der Mond trocken zurück, „du würdest so viel geben, dass das Leben auf der Erde bald wieder zu Ende wäre."
„Zu Ende?", erboste sich nun die Sonne. „Ich gebe den Lebewesen erst die Energie, die sie brauchen, um zu gedeihen und zu wachsen. Mit mir fängt das Leben erst an."
„Genau so habe ich mir das gedacht", spöttelte nun der Mond, „Du würdest die Lebewesen so mit Energie vollpumpen, dass sie zerplatzen."
„Sie würden nicht zerplatzen", fauchte nun die Sonne, „ich würde dafür sorgen, dass sie groß und stark werden."
Doch egal was die Sonne sagte, der Mond fand immer einen Gegengrund, um sich selbst mindestens gleich zu stellen.
Vor Wut schrie die Sonne nun immer lauter und strahlte immer stärker, während der Mond kühl und gelassen blieb. Voller Zorn fing die Sonne an, so stark zu strahlen, dass es selbst Gottvater und Mutter Erde zu viel wurde. Ihnen wurde klar, dass sie Sonne und Mond voneinander trennen mussten, wenn sie kein absolutes Durcheinander auf der Welt haben wollten. Und so zogen sie sich zurück, besprachen sich und dachten nach. Endlich hatte sie eine Lösung gefunden und rief nun Sonne und Mond zu sich.
„Du, liebe Sonne, wirst als Fixpunkt an einer Stelle stehen", sagte Gottvater. Schon wollte sich die Sonne lauthals beschweren, aber der Gottvater hob die Hand und befahl ihr zu schweigen. „Nochmals – du wirst als Fixpunkt an einer Stelle stehen und dadurch der Mittelpunkt unserer Welt sein."
„Mittelpunkt?", fragte die Sonne misstrauisch. Aber dann fing sie an zu strahlen. „Klar, Mittelpunkt, das ist die Stelle, die mir gebührt." Die Sonne schien mehr als zufrieden. Noch bevor die Sonne weiter über ihre neue Stelle nachdenken konnte, wies ihr Gottvater ihren Platz zu. Und so wurde die Sonne zu einem strahlenden und leuchtenden Fixstern und Mittelpunkt der Schöpfung.
Dem Mond aber wies der Gottvater mehrere Aufgaben zu. Als Planet umkreist er seither Mutter Erde. Er sorgt für die Gezeiten auf der Erde. Er hat Einfluss auf die Wachstums- und die Ruhezeiten der Pflanzen. Er achtet darauf, dass die Lebewesen auf der Erde sich entspannen und ausruhen können.
So hatte jeder seine Aufgabe. Sie sahen sich täglich, aber sie konnten sich niemals mehr so nahekommen, um sich streiten zu können.
Gottvater und Mutter Erde waren zufrieden mit ihrer Schöpfung. Alles hatte seinen Platz und alles war im Gleichgewicht. Da entschieden sie sich, den Menschen zu erschaffen als Krönung ihrer Schöpfung.
Hier hörte die Geschichte auf. Schade. Dieser letzte Satz klang so, als ob die Geschichte weiterging. Vielleicht gab es da noch ein zweites Blatt mit ihrer Fortsetzung. Vorsichtig blätterte sie das alte Buch durch, aber ein zweites Blatt fand sie nicht. Allerdings entdeckte sie bei genauerem Hinsehen, dass jemand noch am Rand des Blattes etwas aufgeschrieben hatte. Sie schaltete das Schreibtischlicht an und hielt das Blatt etwas dagegen. Jetzt konnte sie die Notiz besser erkennen.
Sol invictus gleich unbesiegter Sonnengott. Allwissend. Allschauend. Schutzgott der Herrscher. Bruder der Mondgöttin Luna. Luna Noctiluca gleich Leuchterin der Nacht. Verbindung der Seele mit der Schöpfung.
Tonya grinste. Nette Geschichte. Wer diese wohl geschrieben hatte? Und wer hatte diese Notiz geschrieben? Ganz genau betrachtete sie das Blatt Papier, konnte aber nirgendwo darauf ein Name oder eine Jahreszahl finden. Langsam stand sie auf, regte sich und streckte sich. Sie war müde und es gab viel zu viele Gedanken, die ihr im Kopf herumschwirrten. Da waren viel zu viele Fragen und bislang hatte sie noch keine zufriedenstellenden Antworten darauf.
Ohne sich auszuziehen, legte sie sich aufs Bett, den Mondstein in der Hand. Sie wollte nachdenken. Doch kaum lag sie entspannt auf dem Bett war sie schon eingeschlafen.

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Gehorche, Tonya.
WerewolfTonya wächst nur mit Brüdern auf und verbringt auch sonst ihre Zeit fast nur mit Jungs. Sie wird bald volljährig, aber einen Mate lehnt sie grundsätzlich ab. Ausgerechnet für sie hatte die Mondgöttin den jungen Alpha des Rudels vorgesehen, der si...