„Was kann ich noch tun, Alpha?", schluchzte Mara. „Sie ist immer noch wie versteinert. Sie hat gestern nichts mehr gegessen und heute Morgen auch nichts. Und sie reagiert auch nicht, wenn ich sie anspreche."
„Ich weiß", seufzte Hendrik und raufte sich die Haare.
Eigentlich hatte er am Tag zuvor noch vorgehabt, am Nachmittag noch einen Versuch zu starten, zu Tonya durchzudringen und sie zum Essen zu bewegen, doch die Rudellosen hatten tatsächlich einen Angriff geplant. Hendrik hatte keine andere Wahl, als sich um die Sicherheit seines Rudels zu kümmern.
Während er sich im nördlichen Bereich der Grenze offen zeigte und dort einigen Rudellosen Auge in Auge gegenüberstand, versuchten tatsächlich die anderen Rudellosen im südlichen Bereich die Grenze zu überschreiten. Sie wurden von Florian und seinen Männern erwartet. Nur zwei überlebten den Kampf und befanden sich nun mit silbernen Ketten an den Gelenken und um den Hals gefesselt im Kerker des Rudelhauses.
Sowohl am gestrigen Abend als auch jetzt am Morgen hatten Hendrik und Florian einige Stunden im Kerker verbracht, um die beiden Gefangenen zu befragen. Zunächst erwiesen sie sich als äußerst stur und mussten deutlich mit Hilfe von Eisenhut und Silber überzeugt werden. Schließlich aber redeten sie doch und sie erfuhren einige wichtige Einzelheiten über die Rudellosen selbst und über dieses Wölfinnenrudel.
Müde und hungrig hatten sie sich bei Mara zum Mittagessen angemeldet und kamen auch pünktlich ins Alphahaus, wohl wissend, dass Mara nicht nur gerne für ihren Alpha und ihren Beta kochte, sondern sich auch freute, wenn gleich gegessen werden konnte und sie das Essen nicht noch Stunden warmhalten musste. Wie gerne würde sie auch für ihre zukünftige Luna kochen. Umso mehr schmerzte es sie, dass Tonya noch immer diese ablehnende starre Haltung hatte.
„Decke den Tisch für drei, Mara. Ich werde sie holen", knurrte Hendrik schließlich und eilte die Treppe hinauf, während Florian sich an den Esstisch setzte und dankbar ein Glas Saft von Mara annahm.
Zunächst holte Hendrik eine Jogginghose und ein Sweatshirt aus seinem Schrank, dann öffnete er die Tür zu Tonyas Zimmer. Wie erwartet bot sich ihm das gleiche Bild wie in den Tagen vorher. Halbnackt, immer noch in ihrer eigenen, mittlerweile wieder trockenen, Unterwäsche, saß Tonya reglos auf dem Boden vor der Balkontür. Natürlich reagierte sie auch diesmal nicht als er eintrat.
Wortlos ergriff er ihren Oberarm und zog sie hoch. Ohne sie loszulassen, zog er sie in das Badezimmer, legte Handtücher auf einen Stuhl und schob sie zur Dusche hin.
„Ich gebe dir zehn Minuten Zeit zum Duschen. Du kannst dich dann in das große Handtuch einwickeln. Bist du dann nicht fertig, werde ich dich unter die Dusche stellen, waschen und dann anziehen. Und versuche nicht, mich täuschen zu wollen. Ich werde es kontrollieren." Er drehte sich um und verließ das Badezimmer. Die Tür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss.
Ungeduldig wartete er vor der Badezimmertür. Er hörte das Wasser laufen, Stille, dann lief wieder das Wasser und wieder Stille. Er blickte auf seine Uhr. Noch zwei Minuten. Neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins. Mit Schwung drückte er die Tür auf.
Tonya stand mit gesenktem Kopf mitten im Badezimmer. Wie befohlen hatte sie ein großes Handtuch um. Er kam näher, zog ihr das Sweatshirt über den Kopf und hielt ihr die Jogginghose hin.
„Anziehen", befahl er. Sie gehorchte.
„Kämm dich", befahl er und drückte ihr die Haarbürste in die Hand.
Langsam, als ob es ihr unendlich schwerfallen würde, hob sie ihre Hand und kämmte sich. Dann griff er nach ihrer Hand und zog sie mit sich, hinaus aus dem Zimmer, die Treppen hinunter ins Esszimmer und dort drückte er sie auf den Stuhl direkt neben sich.
„Lass es dir schmecken, Flo", forderte er seinen Beta auf und reichte ihm die Schüssel mit den Kartoffeln. Zögernd nahm Florian einige Kartoffeln. Mit großen Augen und hochgezogenen Augenbrauen blickte er, nach einem kurzen Seitenblick auf Tonya, Hendrik fragend an, doch dieser schüttelte nur leicht seinen Kopf. Hendrik füllte nicht nur seinen eigenen Teller, sondern auch den vor Tonya.
„Iss."
Noch nie war ein Mittagessen so frostig und still verlaufen wie dieses. Ohne groß aufzublicken, aß Florian seinen Teller leer und schöpfte mit einem Lächeln in Maras Richtung nochmals nach. Mara lächelte zurück. Sie hatte verstanden. Sein erster Teller war schon sehr voll gewesen und Florian war mit Sicherheit satt, doch mit seinem Nachschöpfen signalisierte er ihr, dass er ihre Kochkünste liebte und genoss.
Auch Hendrik lächelte ihr dankbar zu, auch wenn er nicht mehr nachfasste. Nur Tonya saß mit gesenktem Kopf da, führte ein kleines Stückchen zum Mund und kaute endlos lange, bevor sie endlich schluckte. Sie hatte noch nicht einmal ein Viertel ihres Tellers aufgegessen, als Hendrik schließlich aufstand. Schnell legte sie die Gabel zur Seite und stand ebenfalls auf, doch Hendrik drückte sie auf ihren Stuhl zurück.
„Sobald du aufgegessen hast, kannst du wieder auf dein Zimmer gehen. Carl passt auf." Er zeigte auf den bulligen Mann, der gerade die Küche betrat und sich hinter Tonyas Stuhl stellte.
„Wenn sie auf Toilette muss, lass sie ruhig gehen. Wenn sie nach fünf Minuten immer noch nicht draußen ist, hol sie raus und setze sie wieder hier an den Tisch. Benimmt sie sich daneben, schöpfe ihr noch ein Löffel Gemüse nach. Bringe sie erst dann auf ihr Zimmer, wenn sie aufgegessen hat. Und vergiss nicht, die Tür abzuschließen."
Carl nickte, Mara beschäftigte sich eilig mit der Küchenarbeit und Florian folgte Hendrik schweigend nach draußen.
„Sag mal", flüsterte er entsetzt und folgte Hendrik zu seinem Auto. „Was hast du mit der Kleinen gemacht?"
„Nichts", entgegnete Hendrik frustriert und stieg ein. „Gar nichts."
„Sie sitzt da wie ein gebrochenes Häufchen Elend", hauchte er verwirrt, während er sich auf den Beifahrersitzt schob.
„Am ersten Tag hatte sie mich noch aggressiv angeschrien, dann habe ich sie einen Tag allein gelassen, zum Nachdenken, und seitdem ist sie so, Flo. Sie sitzt nur in ihrer Unterwäsche auf dem Boden vor der Balkontür. Dort schläft sie auch ein. Wenn ich sie nachts ins Bett lege und ihr ein T-Shirt überziehe, liegt das T-Shirt wieder achtlos am Boden sobald sie aufwacht und sie sitzt wieder vor der Balkontür. Sie isst nichts, sie trinkt nichts, oder wahrscheinlich nur Leitungswasser, wenn sie mal aufs Klo muss. Sie macht nur etwas, wenn ich es ihr befehle."
„Hast du sie gefragt, was ihr fehlt?"
„Ich habe sie gestern Morgen alles Mögliche gefragt, ob ihr das Zimmer gefällt, warum ihr die Kleider nicht gefallen haben, welche Farben sie am liebsten hat, ob sie lieber eine härtere Matratze möchte, ob sie gerne liest und wenn ja was usw. Ihre Antworten darauf waren, weiß nicht, egal, manchmal, vielleicht mal. Oder sie hat nur mit den Schultern gezuckt und gar nichts gesagt. Egal, was ich sie frage, sie antwortet zwar. Aber ihre Antworten sind kurz, knapp und nichtssagend."
„Autsch."
„Also, was soll ich tun?"
Florian zuckte mit den Schultern und blies sprachlos seine Backen auf. „Keine Ahnung."
„Ich muss mehr über sie erfahren, Flo. Ich muss wissen, wie sie tickt. Verhält sie sich nur so, weil sie Angst vor mir hat? Was ich aber überhaupt nicht glaube. Oder verhält sie sich aus Trotz so? Was schon eher sein könnte. Brülle ich sie an, macht sie sich noch kleiner. Zwinge ich sie, mich anzusehen, blicke ich in ein ausdrucksloses Gesicht. Berühre ich sie sanft und vorsichtig, zuckt sie zurück. Flo, diese Frau treibt mich in den Wahnsinn. Am liebsten würde ich sie packen und so lange schütteln, bis sie irgendeine Regung zeigt. Egal welche, Hauptsache sie reagiert irgendwie. Ich befürchte nur, dass sie dann erst Recht dichtmacht und ich gar nicht mehr an sie herankomme."
„Heilige Scheiße", knurrte Flo. „Nach ihrer letzten Aktion hätte ich eigentlich etwas Anderes erwartet, aber garantiert nicht das. Was hast du jetzt vor?"
„Wir werden jetzt Tonyas Familie einen Besuch abstatten", brummte Hendrik und gab Gas.

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Gehorche, Tonya.
Hombres LoboTonya wächst nur mit Brüdern auf und verbringt auch sonst ihre Zeit fast nur mit Jungs. Sie wird bald volljährig, aber einen Mate lehnt sie grundsätzlich ab. Ausgerechnet für sie hatte die Mondgöttin den jungen Alpha des Rudels vorgesehen, der si...