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Erschrocken erstarrte Melli als sie die Haustür öffnete und dem Alpha gemeinsam mit seinem Beta gegenüberstand. Hendriks Blick war ernst aber nicht unfreundlich. Und auch sein Beta, Florian, blickte ernst. Was war geschehen?

Nervös senkte Melli ihren Blick und trat ehrfürchtig zurück.

„Wie kann ich dir behilflich sein, Alpha?", fragte sie mit zitternder Stimme.

„Zeig uns Tonyas Zimmer", verlangte Hendrik und fügte nach einer kleinen Pause ein „Bitte" hinzu.

Melli nickte. „Bitte folgt mir", flüsterte sie und ging den beiden Männern voraus die schmale Treppe hinauf und den engen Flur entlang bis zum letzten Zimmer.

„Das ist – das war ihr Zimmer, Alpha", flüsterte sie und öffnete die Tür. „Wir haben alles so belassen."

„Gut", nickte Hendrik und lächelte sie beruhigend an. „Wir wollen uns allein und in Ruhe umsehen. Es wäre schön, wenn du uns einen Kaffee machen würdest, damit wir uns anschließend in Ruhe unterhalten können."

„Wie du wünscht, Alpha", nickte Melli. „Bitte kommt nach unten in die Küche, sobald ihr fertig seid."

Florian schloss hinter ihr die Tür. Dann blickten sie sich erstaunt um.

„Hast du das erwartet?", fragte Florian und Hendrik schüttelte den Kopf.

„Das ist doch kein Zimmer für ein Mädchen", bemerkte Hendrik.

„Nein", bestätigte Florian. „Aber es passt irgendwie ganz gut zu der Tonya, die wir vor Tagen hier abgeholt haben."

„Du hast Recht. Es passt aber nicht zu der Tonya, die im Moment noch mit Sicherheit vor einem halbvollen Teller bei mir in der Küche sitzt." Hendrik verdrehte genervt seine Augen und seufzte.

Hätte Melli gesagt, dass dies das Zimmer eines ihrer Söhne sei, hätten sie ihr geglaubt. Ein Bett mit dunkelblauer einfarbiger Bettwäsche am Fußende mit einer blau-rot-karierten Decke darauf. Auf dem Nachttisch ein Wecker und ein Buch über Selbstverteidigung. Ein einfacher Schreibtisch, auf dem Schulsachen lagen. Ein Bücherbord mit Büchern über Geschichte und Gesetze aus allen möglichen Ländern und über Kampftechniken und Sport. Ein großer schwarzer Sitzsack mit ein paar einfarbigen Kissen in unterschiedlichen gedeckten Farben darauf und daneben ein Tisch mit Pokalen. Ein zweitüriger Kleiderschrank. Das war's.

An den Wänden hingen nur Bilder von der Familie. Tonya mit ihren Eltern bei einem Grillfest. Tonya mit ihren Brüdern bei einem Ballspiel. Tonya, die stolz einen Pokal entgegennahm. Tonya mit ihren Freunden bei einem Sportfest. Tonya mit ihrer Mannschaft im wahrsten Sinne des Wortes, denn das einzige Mädchen auf diesem Bild war Tonya selbst.

Hendrik öffnete den Schrank.

„Sportklamotten, Hosen, T-Shirts, Pullis. Das wundert mich jetzt überhaupt nicht mehr. Ich sehe nicht ein einziges Kleid."

„Lass mich raten", grinste Florian jetzt. „Du hattest ihren Kleiderschrank mit Kleidern bestückt?"

„Ja", bestätigte Hendrik und verzog sein Gesicht. „Fast nur mit Kleidern, in allen möglichen Längen und Farben. Sie sollte sich raussuchen, was ihr gefällt und was nicht."

„Genau das hatte sie auch getan", kicherte Florian.

„Oh ja", erwiderte Hendrik lakonisch.

„Und was ist in der Schachtel dort unten im Eck?", fragte Florian und deutete auf eine kleine unscheinbare Schachtel auf dem Boden des Schrankes. Hendrik hob die Schachtel heraus und stellte sie aufs Bett.

„Schau an. Sie hat tatsächlich zwei Kleider", staunte Hendrik.

„Ja. Achtlos in die Kiste gestopft", grinste Florian.

„Das hier", grollte Hendrik plötzlich und drehte sich mit ausgebreiteten Armen um die eigene Achse, „das hier ist das Zimmer einer jungen Frau, die wie ein Junge aufgewachsen ist und sich in dieser Rolle auch so wohl fühlt. Aber es passt nicht zu einem jungen Mädchen, das eine junge Frau werden will. Keine Kleider im Schrank, keine Schminksachen, keine Fanbilder von coolen Typen an der Wand, alles ist schlicht und schnörkellos. Wie passt das hier zu der Tonya, die du heute beim Mittagessen gesehen hast, Flo?"

„Vielleicht hat sie tatsächlich Angst vor dir", grinste Florian, obwohl er es selbst nicht glaubte.

„Nein, genau das glaube ich eben nicht", widersprach Hendrik auch sofort bestimmt. „Mal ehrlich, jemand der Angst hat, zittert und ist unruhig, sobald er sich einer Bedrohung gegenübersieht. Jemand der Angst hat, bringt kaum ein Wort heraus oder stottert, wenn er auf eine Frage antworten soll. Jemand der Angst hat zuckt zusammen und starrt einen mit panisch aufgerissenen Augen an, sobald man ihn überhaupt anspricht oder noch schlimmer ihn berührt. Nein, Flo. Tonya hat keine Angst. Ich hatte meine Hände an ihrer Kehle und sie hat mich angesehen als wäre ich – keine Ahnung. Aber da war keine Angst. Da war eher Gleichgültigkeit. Irgendwie wirkt sie einfach nur – wie erstarrt, eingefroren, total beherrscht."

„Vielleicht war die Art und Weise, wie wir sie mitgenommen haben, ein Schock für sie", mutmaßte Florian.

„Selbst wenn sie über die Art und Weise geschockt war", schüttelte Hendrik zweifelnd den Kopf, „erklärt das ihr jetziges Verhalten? Als wir sie holten, hatte sie um sich geschlagen, gekämpft und geschrien. Reagiert man so, wenn man geschockt ist? Und selbst wenn das ein Schock für sie war, wir haben sie nur gefesselt. Sie wurde weder geschlagen noch missbraucht oder sonst irgendwie verletzt. Und ich bezweifle wirklich, dass diese Tonya so zart besaitet ist, um darauf so dramatisch geschockt zu reagieren. Außerdem wäre sie dann vom ersten Tag an so gewesen."

„Du hast mir noch gar nicht erzählt, wie sie am ersten Tag war", grinste Florian.

„Ich hatte ihre Fesseln gelöst und Mara hatte ihr noch was zu Essen ins Zimmer gestellt. Sie hatte mir lauter Nettigkeiten hinterher gebrüllt, das Tablett gegen die Tür geschleudert und vor Wut fast das Zimmer zerlegt. Geschockt zu sein, sieht deutlich anders aus."

„Also sind wir nicht wirklich schlauer", seufzte Florian.

„Nicht wirklich", nickte Hendrik. Er nahm einige Bilder von der Wand und ging nach unten in die Küche. Florian folgte ihm.

„Melli", wandte sich Hendrik an Tonyas Mutter. „Bitte sorge dafür, dass Tonyas Kleider eingepackt werden. Wir nehmen sie mit. Und Tonyas Bücher und Pokale werden wir auch mitnehmen."

Melli nickte. Sie rief ihre Söhne und gab ihnen den Auftrag, Tonyas Sachen in Kisten zu packen und diese zu Hendriks Auto zu tragen. Dann kehrte sie in die Küche zurück und schenkte den beiden Männern Kaffee ein. Einen Teller mit Keksen stellte sie dazu.

„Alpha, bitte sage mir – wie geht es meiner Prinzessin?" Mellis Stimme klang ganz leise.

„Prinzessin?" Hendrik starrte sie fragend an.

„Ich habe sie immer so genannt", gestand Melli. „Im Geheimen. Sie hasst diesen Spitznamen. Aber ich war so glücklich, endlich ein Mädchen zu haben, eine Prinzessin eben."

„Sie wirkt so gar nicht wie eine Prinzessin", bemerkte Florian trocken.

„Nein", lächelte Melli traurig. „Sie ist mit lauter Brüdern aufgewachsen. Und wehe einer von ihnen hatte es gewagt, sie wie ein Mädchen zu behandeln, dann ist sie wütend geworden." Melli seufzte.

Hendrik und Florian schauten sich kurz an, dann legte Hendrik die Bilder auf den Tisch, die er von der Wand in Tonyas Zimmer abgenommen hatte.

„Wir haben hier einige Bilder", sagte er. „Vielleicht kannst du uns zu jedem Bild etwas erzählen. Zum Beispiel wann es gemacht wurde und bei welcher Situation. Und mach' dir keine Sorgen um Tonya. Es geht ihr gut."

Und sie hörten genau zu, was Melli zu ihrer Tochter und etwas später auch die Jungs zu ihrer Schwester zu erzählen hatten.

Gehorche, Tonya.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt