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Das Erste, was Hendrik sah, als er die Tür zu Tonyas Zimmer aufmachte, war sein achtlos auf den Boden geworfenes T-Shirt. Tonya selbst entdeckte er gleich darauf halbnackt auf dem Boden sitzend vor der Balkontür.

„Was soll das?", fragte er streng und hob sein T-Shirt auf.

Sie reagierte nicht auf seine Worte und rührte sich auch nicht, als er langsam auf sie zutrat, sondern starrte weiterhin sehnsüchtig aus dem Fenster. Hendrik schnaubte. Er war es nicht gewohnt, ignoriert zu werden.

„Ich habe dich was gefragt", fuhr er sie herrisch an, doch auch darauf reagierte Tonya nicht.

Hendrik war noch nie sonderlich geduldig gewesen und musste es auch noch nie sein. Schließlich war er der Sohn des alten Alphas und als solcher hatte sein Wort schon immer Macht. Er musste sich nur dem Wort seines Vaters beugen. Seit er von seinem Vater am Schulfest quasi zum neuen Alpha ernannt wurde, galt sein Wort sogar noch mehr. Jeder, sogar seine Mutter, hatten seine Fragen sofort zu beantworten und auch seine Befehle mussten ausgeführt werden. Einzig sein Vater stand nach wie vor über ihm und hatte das Recht, seinem Befehl zu widersprechen.

Abgesehen von seinen Vater gab es im ganzen Rudel nur zwei Personen, die sich trauten, ihm zu widersprechen oder ihn auf etwas hinzuweisen und das waren seine Mutter, die nur sehr selten und dann auch nur äußerst zögerlich davon Gebrauch machte, und sein Freund und Beta Florian. Und nun saß dieses Mädchen, seine Mate, nur in Unterwäsche bekleidet vor ihm auf dem Boden und wagte es, ihn zu ignorieren.

Wütend ergriff er ihren Oberarm und zog sie auf die Füße. „Zieh das an", befahl er streng und reichte ihr das T-Shirt.

„Ich will nach Hause", gab sie gereizt zur Antwort, ohne auf das T-Shirt in seiner Hand zu achten.

„Das hier ist dein Zuhause", knurrte er ungeduldig.

„Nein", spie sie ihm entgegen.

„Du bist meine Mate...", zischte Hendrik.

„...aber nicht dein Eigentum", unterbrach Tonya ihn zornig.

„Du kennst die Gesetze."

„Ja, Gesetze, die von irgendwelchen Scheißkerlen gemacht wurde, die sich viel zu wichtig genommen..."

„Das reicht", donnerte Hendrik und starrte sie mit mühsam unterdrückter Wut an. „Du bist meine Mate. Du gehörst mir und an meine Seite. Gewöhne dich daran."

„Erst wenn die Hölle gefriert", zischte sie mit Verachtung in der Stimme.

Und dann starrten sie sich an. Er wütend und fassungslos über ihr respektloses Verhalten ihm gegenüber, sie mit vor Zorn funkelnden Augen und der ganzen Verachtung zu der sie fähig war. Sie starrten sich an, prüfend und abschätzend und bemerkten dabei nicht einmal die ältere Frau, die mit einem Tablett voller Speis und Trank ins Zimmer kam und dieses auf das kleine Tischchen stellte. Nur kurz warf sie einen scheuen Blick auf die beiden, dann zog sie sich sehr schnell zurück.

„Schätze, du brauchst noch etwas mehr Zeit – zum Nachdenken", knurrte Hendrik schließlich, warf das T-Shirt auf ihr Bett, drehte sich um und ging zu Tür.

„Nimm das hier mit", schrie Tonya ihm hinterher. Sie hatte das Tablett auf dem Tischchen entdeckt und griff nun nach der Tischplatte und warf es mitsamt dem Tablett darauf um.

Der Teller mit den Brotscheiben darauf flog auf Hendrik zu und traf ihn gerade noch an der Wade. Die mit Butter bestrichenen Brotscheiben klebten neben einigen Wurstscheiben an seiner Hose. Der Saftkrug zerschellte auf dem Boden und der Saft darin schwappte auf Hendrik zu und durchnässte seine Hosenbeine. Mühsam beherrscht dreht er sich zu Tonya um. Seine Hände hatte er so fest zu Fäusten geballt, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er atmete heftig und bei jedem Atemzug blähten sich seine Nasenlöcher und wäre er dazu in der Lage, dann würden seine Augen nun gefährlich scharfe Blitze auf Tonya schießen.

Noch nie hatte es jemand gewagt, sich ihm zu widersetzen. Und nun stand da dieses Mädchen, stolz aufgerichtet und starrte ihn mit Wut und Verachtung an. Ihn, den Alpha. Sie waren seelenverwandt. Warum bekämpfte sie ihn dann?

Ohne noch etwas zu sagen, drehte sich Hendrik um und verließ den Raum. Erstaunlich leise schloss sich die Tür hinter ihm und fast unhörbar drehte sich der Schlüssel im Schloss. Tonya grinste. Sie hatte ihn aus dem Konzept gebracht und seinem Blick standgehalten. Er hatte als erster den Blickkontakt abgebrochen. Diesen Zweikampf hatte sie gewonnen. Zufrieden drehte sie sich zur Balkontür um und setzte sich wieder auf ihren Platz davor.

Den ganzen Tag über hörte sie nichts. Niemand kam. Man ließ sie allein. Tonya erwachte auch am nächsten Morgen auf dem Boden vor der Balkontür. Dieses Mal war in der Nacht niemand in ihrem Zimmer gewesen. Auch den ganzen Vormittag ließ sich niemand sehen. Wollte er sie hier verrotten lassen?

Selbst wenn das so wäre, alles wäre besser, als für den Rest des Lebens als willenloses Hündchen neben ihrem Herrn herzulaufen. Sie hatte es befürchtet. Ausgerechnet sie, die nie einen Mate wollte, bekam ein arrogantes, rücksichtsloses Alphatier ab. Was hatte sie nur verbrochen, dass sich die Göttin das hatte einfallen lassen?

Doch komme was wolle, Tonya war nicht bereit, kampflos aufzugeben. Auch wenn es ihr nicht gefiel – sie war nun mal ein Mädchen und Jungs waren körperlich leider deutlich stärker als sie. Doch Max hatte sie gut trainiert und sie war dadurch in der Lage, sich gegen viele Wölfe wirkungsvoll verteidigen zu können. Was ihr an Kraft fehlte, konnte sie durch ihre Schnelligkeit und Wendigkeit und durch ihre gute Kampftechnik meist ausgleichen. Nur gegen gut trainierte Kämpfer hatte sie kaum eine Chance und ein Alpha war noch ein ganzes Stück stärker als ein Kämpfer. Gegen Hendrik also würde sie niemals ankommen, zumindest nicht auf kämpferische Art und Weise.

Plan B musste her. Sie hatte Zeit genug, um sich einen neuen Plan zu überlegen und sie hatte sich sehr schnell für einen Weg entschieden. Ein grimmiges Grinsen huschte über ihr Gesicht. Sie hatten sich angestarrt und ihr liebster Mate war fassungslos gewesen und konnte sie nicht einschätzen. Sie dagegen hatte das Duell für sich entschieden. Ihr liebster Mate war also nicht sehr geduldig und deshalb war sie sich sehr sicher, dass Hendrik ihr zukünftiges Verhalten garantiert nicht gefallen würde. Aber genau das sollte auch so sein.

‚Bist du nicht ein bisschen zu hart', fragte Yani leise.

‚Bitte was?', fragte Tonya überrascht zurück.

‚Vielleicht solltest du etwas netter zu ihm sein', schlug Yani vor.

‚Soweit kommt es noch', schnaubte Tonya zornig. ‚Er hat mit dieser Scheiße angefangen, nicht ich. Er behandelt mich wie eine Leibeigene und dafür bekommt er die Quittung. Es ist mir vollkommen gleichgültig, ob er damit klarkommt, oder nicht.'

‚Ich weiß nicht recht', flüsterte Yani unsicher.

‚Halte dich einfach raus, ok?', forderte Tonya sie auf.

‚Ja, aber.'

‚Halt die Klappe, Yani.'

Gehorche, Tonya.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt