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Sie saß schon wieder auf dem Boden vor der Balkontür. Wo auch sonst? Aber sie saß nicht mehr nur in Unterwäsche bekleidet dort, sondern trug nun ihre Jogginghose und eines ihrer Lieblingsshirts. Nach wie vor aber reagierte sie nicht, als sich die Tür zu ihrem Zimmer öffnete.

Langsam trat Hendrik ein und ließ die Tür leise hinter sich ins Schloss fallen, bevor er noch langsamer auf sie zuging und sich wortlos neben sie stellte. Lange stand er schweigend da, die Hände tief in seiner Hosentasche vergraben und starrte genauso wie sie aus dem Fenster. Er hoffte auf eine Reaktion von ihr. Doch auch diesen kleinen Kampf gewann Tonya. Sie hatte in der Tat wesentlich mehr Geduld wie er und sie hatte sich zudem verdammt gut im Griff. Während er angespannt und hoffnungsvoll auf irgendeine Regung von ihr wartete, saß sie weiterhin augenscheinlich vollkommen entspannt vor der Balkontür und beobachtete die Wolken, die vereinzelt am ansonsten blauen Himmel vorbeizogen.

„Deinem Bruder geht es gut. Er ist zu Hause", sagte er schließlich. Einen Moment lang glaubte er ein Zucken in ihrem Gesicht gesehen zu haben. Doch vielleicht hatte er sich auch getäuscht.

Er schloss die Augen und atmete mehrmals bewusst tief ein und aus. Dann holte er den Schlüsselbund aus seiner Tasche und schloss die Balkontür auf. Es war kühl draußen und ziemlich schnell wurde es auch kühl im Zimmer. Doch auch das schien Tonya überhaupt nicht zu interessieren. Sie zeigte nach wie vor keine Regung und schien auch nicht zu frieren.

„Ich habe genug von deinem Verhalten", sagte er schließlich mit leiser Stimme. „Ich werde die Türen nicht mehr abschließen, du kannst dich hier im Haus also frei bewegen. Wenn du Hunger und Durst hast, musst du in die Küche gehen. Ansonsten ist es mir egal, was du tust und es ist mir auch egal, wohin du gehst, solange du im Viertel bleibst. Solltest du in den Wald gehen, sei vorsichtig. Ein Großteil des Waldes ist sicher. Meine Männer laufen ständig Streife und sorgen für Sicherheit. Aber unser Wald grenzt an das Territorium der Rudellosen. Wenn du die Grenze zum Niemandsland überschreitest, läufst du Gefahr, angegriffen und vielleicht sogar vergewaltigt zu werden. Deshalb werden dich, sobald du das Haus verlässt, zwei Männer begleiten. Sie kennen die Grenzen und sie werden für deinen Schutz sorgen."

Hendrik blickte auf Tonya hinunter. Er hätte auf seine Worte hin zumindest eine kleine Reaktion erwartet. Aber er wurde erneut enttäuscht. Wie konnte sich jemand wirklich so verdammt gut im Griff haben? Wenn Vicki Recht hatte mit dem, was sie sagte, dann würde er nie erfahren, was sie dachte oder fühlte, solange sie es nicht wollte und es gab keinen Grund, an Vickis Worte zu zweifeln.

Hendrik unterdrückte ein wütendes Schnauben. Er war zwar auf diese Reaktion, genauer auf mangelnde Reaktion ihrerseits vorbereitet gewesen, und doch konnte er nicht verhindern, dass er enttäuscht war und wütend wurde. Seine Hände hatte er zu Fäusten geballt und sein ganzer Körper verkrampfte sich in dem Bemühen, Haltung zu bewahren und ihr nicht zu zeigen, wie sehr ihn ihr Verhalten tatsächlich traf. Wortlos drehte er sich um und ging. Leise fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Es dauerte lange, bis Tonya schließlich aufstand und auf den Balkon hinaustrat. Sie hatte die Augen erleichtert geschlossen, als sie hörte, dass er sich umdrehte und wegging. Aufmerksam verfolgte sie die Geräusche seiner Schritte bis zur Tür. Ganz leise konnte sie auch noch hören, wie er die ersten Stufen der Treppe hinabging, dann war es still. Da erst öffnete sie ihre Augen, stand auf und ging hinaus.

Vom Balkon aus konnte sie nicht nur den nahen Wald, sondern auch die Gartenanlage hinter dem Alphahaus sehen. Unter ihr bemerkte sie die breite Terrasse, die über die ganze Länge des Hauses ging. Direkt daneben war der Swimmingpool. Er war fast so lang wie die Terrasse selbst. Links und rechts des Pools führte ein Weg von der Terrasse auf den Rasen und über die Mitte des Pools war eine Brücke. Auf dem Rasen selbst konnte sie mehrere Liegestühle entdecken.

Und sie entdeckte kleine Hütten an der Grenze zwischen Rasen und Wald. Vielleicht waren die Hütten dazu gedacht, sich dort auszuziehen und zu verwandeln, um dann im Wald laufen zu gehen. Wenn Hendrik nicht gelogen hatte, und sie sich nun frei bewegen durfte, würde sie dies sehr schnell ausprobieren. Yani hatte jetzt einige Tage leiden müssen und war dabei erstaunlich still geblieben. Es wurde Zeit, ihr mal wieder Gelegenheit zu geben, sich auszutoben.

Dann aber entdeckte sie zwischen den Hütten ein Mann. Tonya schnaubte. Das war einer von den beiden bulligen Typen, mit denen sie gekämpft hatte. Es war der Typ, dem sie mit voller Wucht ihre Faust in den Magen gerammt hatte. Und jetzt stand der Typ dort unten und blickte neugierig zum Balkon hoch. Er hatte sie entdeckt. Ganz offen stand er dort und beobachtete Tonya. War das einer der zwei Männer, die sie begleiten würden, sollte sie das Haus verlassen?

Tonya fühlte Wut in sich aufsteigen. Klar, der Typ hatte doch nur Befehle befolgt, Hendriks Befehle. Nichtsdestotrotz war er einer der beiden, die sie überwältigt und gebunden hatten. Wenn man doch weiß, dass etwas nicht in Ordnung ist, warum tut man es dann? Ok, für Hendrik, seinen Beta und diese Männer war es richtig, sie mitzunehmen. Schließlich war sie die Mate des Alphas. Sie gehörte ihm. So jedenfalls sagte es das Gesetz. Sie war ja nur eine Frau und hatte kein Mitspracherecht, so stand es im Gesetz, gemacht von Männern für Männer. Es gab also kein Grund anzunehmen, solche bulligen Befehlsempfänger würde auch nur einen Gedanken daran verschwenden, dass es Unrecht war, was sie taten.

Tonya drehte sich weg. Die Lust laufen zu gehen, war ihr vergangen. Yani würde warten müssen. Aber in Begleitung von diesem Typ da draußen würde sie garantiert nicht in den Wald gehen. Also entschloss sie sich, sich zunächst im Haus umzusehen. Leise ging sie zur Tür und fand sie tatsächlich immer noch offen. Sie hatte zwar kein Schließen gehört als Hendrik ging, aber sie war auch draußen auf dem Balkon gewesen und es hätte ja sein können, dass sie deshalb nicht mitbekommen hätte, dass er vielleicht doch....

Tonya atmete auf und lauschte. Es war alles ruhig. Selbst aus der Küche hörte sie nichts. Sie schlich zur Treppe und blickte über das Geländer. Von dort aus hatte sie einen direkten Blick auf den Esstisch und auf den größten Teil der Küche. Sie lauschte. Immer noch alles ruhig. Müsste Mara jetzt nicht eigentlich schon mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt sein? Langsam schlich sie die Treppe hinunter und warf vorsichtig einen Blick durch das Fenster und entdeckte auch dort einen Mann, der ihr gerade den Rücken zustreckte. Er sah genauso groß und bullig aus, wie der Mann im Garten. Da drehte er sich um und blickte gelangweilt zur Haustür. Tonya erstarrte. Das war der andere Kerl, der geholfen hatte, sie zu überwältigen.

Nein, mit diesen beiden Männern würde sie sicher nicht laufen gehen. Außerdem wusste sie ja nicht, wann Hendrik zurückkommen würde. Wahrscheinlich würde Mara früher wiederkommen und mit den Vorbereitungen für das Abendessen beginnen und Tonya wollte auf gar keinen Fall irgendjemandem begegnen. Aber sie hatte Hunger. Richtig Hunger.

Neugierig öffnete sie den Kühlschrank und bekam große Augen. Er war voll von lauter leckeren Sachen. Und plötzlich konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und aß, bis sie satt war. Dann räumte sie alles auf und verschwand schnell wieder auf ihrem Zimmer.

Gehorche, Tonya.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt