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Das ganze Rudel war unterwegs. Wer nicht arbeiten musste, wurde freigestellt oder hatte frei genommen und sich zum Sportplatz in der Unterstadt begeben. In der Mitte des Platzes war eine kleine Tribüne errichtet worden und nur wenige Meter entfernt an der einen Stirnseite fand eine große Tribüne Platz. Es war nicht schwer zu erraten, wofür die Tribünen benötigt wurden. Außerdem hatte es sich ziemlich schnell herumgesprochen, weshalb der Rat und das ganze Rudel eingeladen wurden.

Alpha Norman hatte diesen Rat ins Leben gerufen, angeblich um seinem Rudel ein gewisses Mitspracherecht zuzugestehen. In Wahrheit war dieser Rat eine Lachnummer. Er bestand aus ein paar einflussreiche Rudelmitglieder, die zudem eng mit ihrem Alpha befreundet waren. Alpha Norman sorgte dafür, dass es seinen Freunden gut ging, und sie dankten es ihm, indem sie treu hinter ihrem Alpha standen und ihm brav nach dem Mund redeten.

Alpha Norman hatte zu keiner Zeit die Führung aus der Hand gegeben. Obwohl er seinen Sohn beim Schulfest als neuen Alpha vorstellte und ihm durchaus einen gewissen Freiraum einräumte, das letzte Wort hatte nach wie vor er. Er würde also am Nachmittag vorne stehen. Sein Sohn Hendrik und seine Freunde aus dem Rat hatten ihre Plätze hinter ihm.

Auf der kleinen Tribüne, der Rudelführung gegenüber, umringt vom Rudel selbst, würde Tonya stehen. Allein. Jeder würde sie anstarren und jede noch so kleine Regung oder Bewegung ihrerseits würde vom Rudel gesehen und gehört. Noch nie war jemand so vorgeführt worden.

Das Rudel war geteilt. Die Rudelmitglieder aus der Oberstadt beführworteten die harte Haltung ihres Alphas. Wo käme man auch hin, wenn so eine kleine Wölfin aus der Unterstadt sich so respektlos den Oberen gegenüber verhalten durfte? Sie hatten sich gut eingerichtet in ihrem guten Leben in der Oberstadt und es ging ihnen sehr gut dort. Warum sich also gegen den Alpha stellen? Die Mitglieder des Rates wohnten ebenfalls alle in der Oberstadt, wo auch sonst?

Gespannt warteten sie also auf die Anhörung. Entweder würde sich die kleine Wölfin aus der Unterstadt den Regeln der Obrigkeit beugen, oder sie war es nicht wert, weiterhin Mitglied in diesem Rudel zu sein.

Die Haltung der Rudelmitglieder aus der Unterstadt war genau das Gegenteil. Tonya war eine von ihnen. Fast jeder kannte sie. Sie galt als eigenwillig und stur, aber sie beschützte alle, die sich nicht selbst wehren konnten und deshalb war sie weithin beliebt. Die ganze Familie Burmann war bekannt und beliebt. Dass ausgerechnet dieses Mädchen ihre zukünftige Luna werden sollte, freute die meisten. Und nun das. Nun wurde ihre Tonya auf solch unwürdige Art und Weise an den Pranger gestellt und der Rat tat nichts dagegen.

Am liebsten wären sie dieser Veranstaltung ferngeblieben, aber der Alpha hatte ihre Anwesenheit befohlen und sie hatte zu gehorchen. Doch der Widerwille unter den Rudelmitglieder der Unterstadt war deutlich spürbar.

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Hendrik saß am Küchentisch. Vor ihm stand bereits die dritte Tasse Kaffee, die kalt wurde. Er hatte nicht einmal etwas gegessen.

Mara blickte ihn mitleidig an, als sie erneut seine Tasse mit heißem Kaffee füllte. „Es ist nicht richtig", flüsterte sie.

Hendrik blickte auf. „Was ist nicht richtig?", fragte er neugierig.

Mara blickte zu den beiden Wachmännern, die an der Eingangstür standen. Die beiden Männer drehten sich etwas weg und steckten sich ihre Finger in die Ohren. Was sie nicht hörten, konnten sie nicht preisgeben. Und sie würden dann auch nicht lügen, wenn sie sagten, sie hätten nicht gehört, dass Mara mit Alpha Hendrik über Tonya gesprochen habe.

„Es ist nicht richtig, Luna Tonya vor dem ganzen Rudel zu zwingen, sich zu entscheiden", flüsterte sie.

„Ich weiß, Mara", nickte Hendrik. „Vater ist gewohnt, seinen Willen durchzusetzen. Aber dieses Mal geht er zu weit. Er wird nicht gewinnen, Mara. Er wird verlieren. Er wird sehr viel verlieren."

„Ich habe ein Brot für Luna Tonya gebacken und Cilli, das ist das Mädchen, das Luna Tonya das Essen bringt, gebeten, ihr das Brot zu bringen. Sie sollte wissen, was sie erwartet."

„Danke, Mara", lächelte Hendrik ihr zu und trank dann endlich seinen heißen Kaffee.

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Erstaunt hob Tonya die Augenbrauen. Dreimal hatte ihr dieses Mädchen gestern etwas zu essen gebracht und nicht ein einziges Mal hatte sie dabei ihren Kopf erhoben und sie angesehen. Jetzt reichte sie ihr die Schüssel mit Fleisch, Brot und Obst und blickte sie fast flehend an, als wolle sie etwas sagen. Doch dann senkte sie den Kopf, drehte sich schnell um und verließ, gefolgt von den beiden Wachmännern die Zelle.

Tonya setzte sich und starrte auf die Schüssel. Warum plötzlich dieses Verhalten? Wollte das Mädchen sie damit auf etwas aufmerksam machen? Sie untersuchte den Inhalt der Schüssel. Es enthielt ein Stück gekochtes Fleisch, ein kleinen Laib Brot, einen Apfel und einige Trauben. Genau das gleiche, wie ihre Frühstücksschüssel am Tag zuvor. Auch zwischen den einzelnen Sachen war nichts versteckt. Ob im Brot...?

Neugierig brach Tonya das Brot mittendurch und fand ein kleines Blatt Papier zusammengerollt.

Luna Tonya. Wir sind in Gedanken bei dir und wünschen dir Kraft. Alpha Norman plant, dich vor dem ganzen Rudel an den Pranger zu stellen. Er hat auf dem Sportplatz in der Unterstadt eine Tribüne errichten lassen, auf der du allein für alle sichtbar stehen wirst, wenn er dir die Frage stellt. Du solltest das wissen, damit du dich darauf vorbereiten kannst. Mara.

Sie hatte es befürchtet. Schließlich hatte er gesagt, dass sie ihre Entscheidung vor dem Rat und vor dem Rudel treffen sollte. Wenn sie sich jetzt unterwarf, unterwarf sie sich nicht Hendrik, ihrem Mate, sondern dem Alpha. Sie hatte es gewagt, ihm die Stirn zu bieten. Jetzt forderte er sie heraus, vor dem ganzen Rudel.

Gehorche, Tonya.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt