Die scheue Frau, die am frühen Morgen in Begleitung mehrerer Wachen in den Kerker kam, brachte ihr ein gutes Frühstück auf einem großen Tablett. Tonya beobachtete sie. Die Frau war noch sehr jung, fast noch ein Kind, schüchtern, unsicher und ängstlich. Sie wagte nicht einmal, ihren Blick zu erheben und Tonya kurz anzusehen. Wahrscheinlich befolgte sie strickt einem Befehl. Sie stellte das Tablett auf die Pritsche und nahm das andere Tablett mit der leeren Schüssel und dem leeren Krug mit. Genauso wortlos, wie sie die Zelle betreten hatte, verließ sie sie auch wieder.
Während der ganzen Zeit waren zwei Wachen wachsam in der Zelle gestanden. Einer von ihnen hatte die ganze Zeit über Tonya im Auge behalten, der andere diese Frau. Erst als sie die Zelle wieder verlassen hatte, gingen auch sie hinaus und schlossen die Zellentür wieder ab.
Neben Brot und etwas Fleisch fand Tonya auch Obst und Gemüse in der Schüssel. Ein Becher Kaffee stand neben dem Krug mit Wasser. Der Kaffee war zwar nicht mehr kochend heiß, aber noch warm genug, um ihre Hände am Becher selbst und ihren Körper von innen aufzuwärmen.
Am Tag zuvor hatte sie deutlich einfachere Kost erhalten, gebracht von Wärtern, die das Tablett mürrisch schnaubend auf die Pritsche stellten und wütend vor sich hinbrummend die Zelle wieder verließen. Wem sie wohl dieses Privileg zu verdanken hatte, nun von einer jungen Frau bedient zu werden und ein ansprechendes Frühstück zu bekommen?
Alpha Norman war das garantiert nicht und Hendrik stand unter Hausarrest. Er würde das auch nicht organisiert haben können. Vielleicht war es Luna Adelin. Obwohl? Tonya bezweifelte es. Sie hielt Luna Adelin für eine absolut unterwürfige Frau, die sich niemals gegen ihren Gefährten auflehnen würde. Oder etwa doch?
Vielleicht war Luna Adelin nicht immer so gewesen. Vielleicht war sie früher auch einmal eine starke und selbstsichere Frau. Vielleicht war sie auch nur durch diese dämliche Mate-Verbindung zu einem solchen dominanten und hartherzigen Mann wie Alpha Norman zu dieser gehorsamen Frau geworden.
Egal. Wenn sie sich dafür entschied, das zu tun bzw. das zuzulassen, was von ihr verlangt und erwartet wurde, würde sie sich mit der Zeit ebenfalls selbst verlieren und zur unterwürfigen Gefährtin des Alphas werden?
Hendrik war Alpha Normans Sohn. Inwieweit ähnelte er ihm? In den letzten Tagen hatte er ihr doch einiges an Freiheiten zugestanden. Ok, sie hatte sich zwar immer noch als Gefangene gefühlt, denn nach wie vor war das Alphahaus ihr Gefängnis und Freigang hatte sie nur in Begleitung und nur in einem begrenzten Rahmen. Würde es dabei bleiben? Oder würde Hendrik, sobald er sie markiert hatte und ihrer sicher war, plötzlich das gleiche dominante Verhalten wie sein Vater an den Tag legen? Dann würde sie genauso enden wie Luna Adelin. Und genau das wollte sie nicht.
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Eine Whiskyflasche lag leer auf dem Tisch, die zweite war nur noch halbvoll. Hendrik lag schnarchend auf dem Sofa. Ein Fuß lag auf dem Sofa, der andere Fuß hing über den Sitz hinunter und stand auf dem Boden. Eine Hand lag mit der Handfläche nach oben auf seiner Stirn, die andere Hand hing nach unten. Sein T-Shirt hatte sich nach oben geschoben und gestattete einen Blick auf seinen nackten Bauch.
Genauso fand Florian seinen Freund am späten Vormittag vor. Florian räumte die Flaschen weg und stellte eine dampfende Tasse Kaffee auf den Tisch, bevor er Hendrik schüttelte.
„Steh auf, Faulpelz", knurrte er ihn an. Hendrik reagierte nicht.
„Aufstehen", forderte Florian Hendrik nun mit lauter, herrischer Stimme auf.
„Flo?", fragte Hendrik ungläubig. Er gähnte und rieb sich mit den Fingern seine Schläfen. Träge öffnete er die Augen und schloss sie gleich wieder. Es war viel zu hell und die Helligkeit blendete ihn. „Was machst du hier? Bist du verrückt? Wenn Vater das bemerkt." Mühsam setzte er sich auf.
„Hier. Trink." Florian hielt ihm die Tasse Kaffee hin und wartete, bis Hendrik seine Tasse fast bis zur Hälfte ausgetrunken hatte.
„Dein Vater weiß es", erklärte Florian beruhigend. „Mara hatte heute Morgen mit Luna Adelin telefoniert und von deinem Alkoholkonsum berichtet. Luna Adelin hatte dann beim Frühstück so nebenbei die Bemerkung fallen lassen, dass es vielleicht ganz gut wäre, wenn du jemand zum Reden hättest. Jemand, der in der Lage wäre, dir ins Gewissen zu reden und so weiter."
„Also bist du hier, um mich dazu zu überreden, dass ich Tonya auch gegen ihren Willen markiere und mit ihr schlafe?"
„Nein", schüttelte Florian ernst den Kopf. „Nein, muss du nicht."
„Was soll das heißen?", fragte Hendrik alarmiert.
„Das soll heißen, dass alles an Tonya liegt. Sie wird morgen vor dem ganzen Rat und vor dem ganzen Rudel entscheiden müssen, ob sie sich dir unterwirft und ihre Pflichten als Luna übernimmt, oder nicht. Tut sie das, wirst du sie markieren und sie wird dich markieren, vor dem ganzen Rudel. Dich mit ihr paaren darfst du dann ohne Rudel in deinem Schlafzimmer."
„Natürlich sofort im Anschluss an die Zeremonie, nehme ich an?", fragte Hendrik sarkastisch.
„So ist es", nickte Florian.
„Glaubst du wirklich, dass sich Tonya mir unterwirft?", grinste Hendrik ungläubig.
„So, wie ich sie kennengelernt habe, wohl eher nicht." Florian blickte auf den Boden, seine Hände tief in den Hosentaschen vergraben.
„Aber tut sie es nicht, wird sie ausgestoßen. Und dann wirst du sie vor dem ganzen Rudel als Gefährtin zurückweisen und Evelina als gewählte Luna dem Rudel vorstellen."
Hendrik starrte Florian an. Dann fing er an zu lachen. Er lachte und lachte und konnte sich kaum beruhigen. Florian starrte ihn verständislos an und Hendrik lachte noch lauter, als er das Gesicht seines Freundes sah. Es dauerte eine ganze Zeit, bis er sich langsam wieder beruhigte.
„Das hat er sich ja toll ausgedacht", kicherte Hendrik. „Ich glaube nicht, dass ich Tonya ablehnen kann."
„Und warum nicht?", fragte Florian überrascht.
„Flo, das was ich dir jetzt sage, bleibt unter uns, schwöre es", erwiderte Hendrik nun vollkommen ernst.
„Ich muss deinem Vater Bericht erstatten, Hendrik", antwortete Florian genauso ernst.
„Stimmt", seufzte Hendrik. „Du bist ja wieder ihm unterstellt. Nun denn, dann geh und erstatte deinem Alpha Bericht. Wir sehen uns dann morgen."
„Hendrik, ich...", Florian unterbrach sich, weil Hendrik fast herrisch seine Hand hob und ihn so aufforderte zu schweigen.
„Geh Florian", forderte Hendrik ihn nun ernst auf. „Geh zum Alpha und erstatte ihm Bericht. Berichte ihm, dass sein Sohn unglaublich wütend auf seinen Vater ist. Und richte ihm aus, dass er, der Alpha, diesen Kampf verlieren wird, sollte er ihn tatsächlich ausfechten wollen."
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Gehorche, Tonya.
LobisomemTonya wächst nur mit Brüdern auf und verbringt auch sonst ihre Zeit fast nur mit Jungs. Sie wird bald volljährig, aber einen Mate lehnt sie grundsätzlich ab. Ausgerechnet für sie hatte die Mondgöttin den jungen Alpha des Rudels vorgesehen, der si...