Epilog

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Tonya war weg. Zurück blieb ein Rudel, das ihr geschockt hinterher blickte.

Vor allem Tonyas Worte spukte in ihren Köpfen herum. Einige hatten noch nicht wirklich begriffen, warum Tonya jetzt und hier Nein gesagt hatte. Sie war doch Hendriks Mate, wie konnte sie da Nein sagen?

Herr Dunning seufzte. Er wusste jetzt schon, dass das, was gerade geschehen war, Thema eins in den nächsten Tagen, vielleicht sogar Wochen sein würde. Er hatte ihr Gesicht gesehen, als sie zu dieser Tribüne geführt wurde. Sie hasste die Öffentlichkeit, dass sie aber so stolz und unbeirrt mit hoch erhobenem Haupt auf die Tribüne steigen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Er wusste, dass sie stark war, aber noch nie konnte man ihre Stärke so deutlich spüren wie in dem Moment, als sie Alpha Norman anblickte. Und das war genau der Moment, in dem er wusste, wie sie sich entscheiden würde.

Die ganze Zeit über hatte er den jungen Alpha beobachtet und schnell wurde ihm klar, dass sie sich nicht gegen Hendrik und das Rudel entscheiden würde, sondern gegen den Zwang, den der Alpha auf sie ausübte. Hendrik sah nicht wütend aus oder verletzt. Hendrik sah aus, als ob auch er sich über ihre Entscheidung im Klaren war. Und er wirkte dabei eher so, als wäre er stolz auf seine Mate.

Hätte der Alpha nur noch etwas mehr Geduld aufgebracht und abgewartet, dann hätte das Rudel nicht nur einen starken jungen Alpha bekommen sondern auch eine ebenso starke Luna. Jetzt hatte er fürs erste alles verdorben und mehr verloren, als ihm zu diesem Zeitpunkt bewußt war.

Vier Minuten waren vergangen, seit Tonya im Wald verschwunden war und noch immer standen alle Rudelmitglieder regungslos und abwartend im Stadion. Die Wachen an der Grenze hielten Ausschau nach der roten Wölfin, haben sie aber bisher noch nicht gesehen. Wo war sie? Sie hatte noch sechs Minuten.

Melli hatte ihr tränennasses Gesicht an Davids Brust gedrückt. David hielt sie fest umschlungen und verbarg sein Gesicht in ihrem Haar. Genauso standen auch Vicki und Max da. Mark hatte seine Dina ebenfalls fest im Arm, doch beide beobachteten eher neugierig die Reaktion der Rudelmitglieder auf Tonyas Aktion. Bente und Cosmo dagegen schoben verlegen kleine Steinchen auf dem Boden hin und her.

Noch fünf Minuten.

Alle warteten gespannt. Wird sie es schaffen? Wer sie kannte, war sich sicher, dass sie es schaffen würde. Alle anderen zweifelten. Zehn Minuten von hier bis zur Grenze war schon für ein ausgewachsener Wolf eine gute Leistung. Wie also sollte es eine kleine Wölfin schaffen? Sie alle waren entsetzt gewesen, als sie begann sich auszuziehen. Viele waren vor Scham rot geworden, doch niemand senkte den Blick. Und dann hatte sie sich auch noch vor allen Augen verwandelt. Das hatte noch nie irgendjemand gewagt. Nur wenige kannten ihre Wölfin. Umso erstaunter waren sie, als sie sie sahen, dieses herrlich rötlich glänzende Fell, unterbrochen von grauen bis dunkelgrauen Schattierungen. Ihre Pfoten, die Schwanzspitze, Augenbrauen und Ohren waren fast ganz Schwarz. Am meisten aber beeindruckten ihre Augen. Noch nie hatte jemand solche leuchtenden, grüngelben Augen gesehen.

Noch vier Minuten.

Ihre Wölfin war nicht sehr groß, aber sie strahlte eine ungeheure Kraft und Energie aus, wie sie so erwartungsvoll auf der Stelle trippelte, bevor sie ihr Bündel schnappte und mit einem mächtigen Satz von der Tribüne sprang. Ohne Hast und mit stolz erhobenem Kopf und Schwanz, in der Haltung einer Alpha-Wölfin war sie entspannt den Weg entlang getrabt, den die Menge für sie frei gegeben hatte, bis zum Nebengebäude mit den Umkleidekabinen. Provokant hatte sie sich dort nochmals umgedreht, kurz aufgeheult und war dann in den Wald gelaufen.

Noch immer starrten einige der Rudelmitglieder auf die Stelle, an der sie verschwunden war. Andere starrten einfach nur in die Luft oder auf den Boden. Noch nie hatte jemand aus ihrem Rudel es gewagt, sich so offen gegen den Alpha zu stellen und hatte diese Unverschämtheit auch noch überlebt.

Noch drei Minuten.

Warum meldeten sich die Grenzposten nicht? Genau in dem Bereich, in dem sie eigentlich die Grenze überqueren müsste, warteten sie auf sie. Doch Tonya tauchte nicht auf. Wo war sie? Hatte sie einen anderen Weg genommen? Doch alle anderen Wege wären deutlich länger. Die Grenzposten sicherten aufmerksam nach allen Seiten. Die Spannung stieg. Die Rudelmitglieder im Stadion warteten nervös.

Noch zwei Minuten.

Noch immer war von Tonya an den Grenzen nichts zu sehen. Das Rudel selbst stand ebenfalls noch immer regungslos auf dem Sportplatz. Während den ganzen Minuten hatte sich der Alpha nicht bewegt. Mit versteinerter Miene starrte er zum Wald. Auch er konnte die Spannung im Stadion spüren. Und die Spannung stieg. Sie würde es nicht schaffen. Oder doch? Aber dann müsste man sie doch schon längst an der Grenze sehen können.

Noch eine Minute.

Ein durchdringendes Heulen war zu hören. Tonya. Sie hatte es nicht nur innerhalb der versprochenen zehn Minuten geschafft, sie hatte es sogar geschafft, ohne gesehen zu werden die Grenze zu überqueren und ein Stück auf einen Felsen hinaufzulaufen. Wäre sie noch im Wald, hätte dieser ihr Heulen gedämpft. So aber hallte ihr Ruf über die Baumgipfel hinweg und verkündigte jubelnd ihre Freiheit.

Zurück blieben fassungslose Gesichter bei den Rudelmitgliedern der Oberstadt und zufrieden lächelnde Gesichter bei vielen Rudelmitgliedern aus der Unterstadt. Sie wussten zwar nicht, wie sie es geschafft hatte, ungesehen das Revier zu verlassen, aber genau das brachte ihr den größten Respekt von allen ein.

Nur eine Person wusste, wie sie es geschafft hatte. Aber sie hatte geschworen, niemandem davon zu verraten. Jetzt lächelte sie, wohl wissend, dass niemand ihr Lächeln sah, weil sie noch immer ihr Gesicht an der Brust ihres Gefährten verborgen hielt.

Gehorche, Tonya.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt