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Was hatte sie getan? Sie hatte sich dem Befehl des Alphas widersetzt. Das würde Konsequenzen haben. Und das nur, weil sie sich nicht traute, vor den Oberen etwas zu „ihrem" Kreisballspiel zu sagen. Nein. Das war es nicht.

Sie hatte in die Augen des jungen Alphas gesehen. Seine Augen hatten sie hypnotisiert und ihren Blick festgehalten. Sie hatte dabei ein leichtes Kribbeln gespürt. So wie Vicki, als sie zum ersten Mal in Max Augen blickte. Sie hatte die ersten Anzeichen gespürt, dass da etwas Besonderes war zwischen ihnen. Konnte das sein? Sie war doch noch gar nicht volljährig. Und doch spürte sie es. Aber das durfte nicht sein. Sie konnte und wollte niemals die Seelenverwandte eines Alphas sein. NIEMALS.

‚Wenn er es aber ist?', meldete sich Yani.

‚Woher willst du das wissen? Ich bin noch nicht volljährig', brummte Tonya.

‚Aber bald', kicherte Yani. ‚Und weil das so ist, kannst du schon ein bisschen was spüren. Und das hast du doch, oder?'

‚Und wenn schon', schnaubte Tonya. ‚Und jetzt sei still. Ich muss nachdenken.'

Yani meldete sich selten von sich aus. Tonya hatte ihre innere Wölfin vor etwa sechs Jahren zu Beginn ihrer Pubertät kennen gelernt. Zu Anfang ging es sehr turbulent zwischen ihnen zu. Yani war genauso dickköpfig und stur wie Tonya und mischte sich so ziemlich in alles ein. Nach und nach aber lernten sich Tonya und ihre Wölfin besser kennen und Tonya lernte auch, Yani im Zaum zu halten.

Nach endlosen Kämpfen hatten sie sich schließlich auf einen Kompromiss geeinigt. Tonya achtete auf Yanis Bedürfnisse und widmete ihr genügen Zeit. Dafür wollte Yani sich aus Tonyas Angelegenheiten heraushalten. Mit der Zeit entwickelte sich zwischen Tonya und ihrer Wölfin Yani ein vertrauensvolles und freundschaftliches Verhältnis.

Yani zog sich also zurück und ließ Tonya nachdenken. Vorerst, aber sie würde ab sofort alles genau beobachten und wenn es nötig wird, sich später nochmals melden.

Tonya war sich nach wie vor sehr sicher, dass sie keinen Mate wollte und schon gar keinen Alpha als Mate. Aber dem Befehl eines Alphas nicht nachzukommen, konnte gefährlich sein. Und dann hatte sie auch noch seinen Beta verletzt. Welcher Teufel hatte sie da geritten? Aber er war doch selbst schuld. Er hatte sie angefasst, wenn auch nur am Oberarm, aber er hatte sie angefasst, ohne zu fragen und so fest, dass es weh tat. Sie war zwar nicht zimperlich und konnte einiges ab, aber mit welchem Recht hatte er sie so festgehalten und dann auch noch hinter sich her gezerrt. Das ging gar nicht.

Schwer atmend war sie endlich am kleinen Felsen angelangt. Jeder aus der Unterstadt kannte diesen Felsen. Dort gab es hunderte von Möglichkeiten, Kleidung trocken und geschützt abzulegen. Tonya zog sich aus, schnürte alles zu einem Bündel zusammen und legte es in eine Felsnische. Dann verwandelte sie sich und rannte los.

Zum ersten Mal war sie in der Nacht vor ihrem vierzehnten Geburtstag mit ihren Eltern bei diesem Felsen gewesen. Gemeinsam waren sie den schmalen Weg auf den Felsen hinaufgegangen. Erstaunt hatte sich Tonya umgeblickt. Der Felsen war größer, als es von unten den Anschein hatte und oben ganz flach. Nur in der Mitte des Plateaus war eine kleine Kuhle, und in diese hatten sie ihre Tochter geführt.

„Es ist Zeit, Schätzchen", hatte ihre Mutter gesagt. „Wir werden uns jetzt ausziehen und uns verwandeln und dann warten wir so lange in dieser Kuhle, bis die Mondgöttin dir ihren Segen geschickt hat und dich in eine kleine Wölfin verwandelt hatte. Yani wird sich sicher freuen, endlich einen Körper zu haben, der zu ihr passt." Tonya hatte nur genickt, Angst verspürte sie keine, denn ihre Eltern hatte schon Tage vorher all ihre Fragen beantwortet und sie auf diesen großen Tag vorbereitet.

In der Zwischenzeit hatte sich ihr Vater bereits umgezogen, verwandelt und in die Kuhle gelegt. Tonya kannte das weiche dunkelgraue Fell ihres Vaters. Neugierig beobachtete sie nun ihre Mutter, die sich zum ersten Mal vor den Augen ihrer Tochter in eine hellgraue Wölfin verwandelte. Zwar hatte Tonya auch ihre Mutter schon häufiger in ihrer Wolfsgestalt gesehen, aber noch nie hatte sie die Verwandlung beobachten dürfen. Seit sie Yani hatte, kannte sie auch Lia, die innere Wölfin ihrer Mutter und Vito, den inneren Wolf ihres Vaters. Sie wusste, dass auch diese beiden bereit waren, ihr zu helfen.

Zwischen ihren Eltern gekuschelt, lag sie in dieser Kuhle, bis sich um Mitternacht der Mond zwischen den Wolken zeigte und sie im hellen Mondlicht lag. Da spürte sie zum ersten Mal wie ihre Knochen brachen, sich verformten und neu zusammensetzten, wie an allen Körperstellen Haare wuchsen und wie sich ihre Sinne verwandelten. Sie hatte gejault, denn es war sehr schmerzhaft gewesen. Sie hatte am ganzen Körper gezittert, doch ihre Eltern waren an ihrer Seite geblieben, hatten sie gewärmt, getröstet und Mut zugesprochen. Schließlich stand sie unsicher auf weit auseinander stehenden Pfoten als Wölfin vor ihnen und musste lernen, in dieser Gestalt vier Pfoten anstelle von zwei Beinen zu koordinieren.

Die ersten Schritte waren noch mühsam und unsicher, doch wenige Minuten später schon folgte sie ihrer Mutter den schmalen Weg vom Felsen hinunter in den Wald, ihr Vater lief hinterher. Was für ein Gefühl von Freiheit war das denn? Sie hätte stundenlang so durch den Wald laufen können und war enttäuscht gewesen, als sie nach viel zu kurzer Zeit wieder beim Felsen ankamen und wieder hinauf liefen auf das Plateau. Ihr Vater kam mit einem Päckchen hinterher und legte es vor sie hin, dann nahm er seine eigenen Kleider und lief nach unten in den Wald um sich dort zu verwandeln und anzuziehen. Sie selbst und ihre Mutter verwandelten sich im Schein des Mondes in ihre Menschengestalt zurück und zogen sich an.

Bis zu ihrem sechzehnten Geburtstag durfte sie nur mit ihrer Mutter oder ihrem Vater zum Laufen in den Wald, dann erst waren die beiden der Meinung, sie habe nun genug gelernt um allein im Wald zurecht zu kommen. Seither war sie sehr häufig im Wald, fast täglich und ganz besonders Immer dann, wenn sie wütend war, oder frustriert, oder über irgendetwas nachdenken musste, immer dann ging sie laufen.

So wie jetzt auch. Sie lief und lief und lief so lange, bis sie vor Erschöpfung nicht mehr weiterkonnte. Müde schleppte sie sich zum nächsten Bach, trank und legte sich ins hohe Gras.

Mittlerweile würde der Alpha sicher schon wissen, was passiert war. Klar, dieser Florian wird ihm gleich erzählt haben, was sie getan hatte. Und ihre Eltern würden es wahrscheinlich ebenfalls schon längst wissen. Vielleicht auch ihr Lehrer und alle anderen im Rudel. So etwas spricht sich immer sehr schnell herum. Obwohl. Niemand hatte sie gesehen. Oder doch?

Oh heilige Mutter Erde und all ihr Götter. Was sollte sie tun? Ob sie wollte oder nicht, sie würde zurück müssen. Sie würde zumindest ihren Eltern Rede und Antwort stehen müssen. Das war sie ihnen schuldig. Dann würde sie ihre Sachen packen und gehen. Sie wollte ja nicht, dass ihre Eltern und ihre Brüder ihretwegen leiten müssen. Sie würde gehen, aber sie wollte nicht einfach so gehen, sie wollte sich zumindest noch verabschieden.

Langsam trabte sie zurück, verwandelte sich, zog sich an und machte sich auf den Weg nach Hause. Lange stand sie am Waldrand und blickte zu dem Haus, in dem sie mit ihrer Familie wohnte. Alles sah ruhig aus und normal. Fremde Personen konnte sie nicht erkennen. Aber sie konnte sie riechen. Sie roch Florian's Duft. Er war also da gewesen. Doch da waren noch weitere Düfte. Düfte, die sie nicht kannte. Es waren also mehrere Fremde da gewesen. Aber nichts deutete darauf hin, dass sie noch immer da waren.

Tonya seufzte. Dann endlich gab sie sich einen Ruck und ging auf das Haus zu. Kurze Zeit später betrat sie die Küche und sah ihre Eltern und ihre Geschwister mit gesenkten Köpfen am Tisch sitzen.

„Mama? Papa?", flüsterte sie. „Was ist los?"

Die Küchentür hinter ihr fiel krachend ins Schloss und ein großer bulliger Mann stellte sich direkt davor. Neben ihm stand der Alpha. Seine stahlblauen kalten Augen schienen sie durchbohren zu wollen. Und hinter ihm stand Florian und betrachtete sie mit vor Wut rot funkelnden Augen.

Die Falle war zugeschnappt.

Gehorche, Tonya.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt