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Sie hatten es geahnt und ihre Vermutung wurde bestätigt.

Tonya saß noch immer am Tisch, und noch immer hatte sie nicht vollständig aufgegessen. Fast wäre Hendrik nun doch vor Wut geplatzt, hätte Florian nicht seine Hand beruhigend auf seine Schulter gelegt und ihn warnend und kopfschüttelnd angesehen. Hendrik atmete einige Male tief durch.

„Danke Carl", nickte er dem bulligen Mann hinter Tonyas Stuhl zu. „Du hast den Rest des Tages frei. Aber sag Mike Bescheid. Er soll gleich herkommen. In meinem Auto sind einige Taschen und Kisten. Mike soll sie in Tonyas Zimmer bringen."

Carl nickte und ging. Mara hatte zwischenzeitlich den Tisch gedeckt und die Männer setzten sich.

„Greif zu", forderte Hendrik Florian auf und nahm selbst eine Scheibe Brot, bestrich es mit Butter und legte eine Scheibe Wurst und eine Scheibe Käse darauf. Er schnitt die Scheibe in zwei Teile und legte beide Tonya auf den Teller. Stoisch führte Tonya den nächsten Bissen einer kalten Karotte in ihren Mund und kaute langsam und sorgfältig. Im Hintergrund hörten sie Mike die Treppen auf- und absteigen.

Eine halbe Stunde später stand Hendrik auf.

„Mara, Flo und ich gehen noch rüber ins Rudelhaus. Sobald du hier fertig bis, räume bitte noch die Kisten in Tonyas Zimmer aus. Dann hast du für heute frei. Mike, Tonya bleibt hier so lange sitzen, bis sie aufgegessen hat. Und wenn es die ganze Nacht dauert. Verstanden?"

Drei Stunden später saß Tonya immer noch am Küchentisch. Mara hatte längst schon frei und Mike hatte zunehmend Mühe, ruhig zu bleiben. Angespannt und mit geballten Fäusten stand er hinter ihr und beobachtete missmutig, wie sie in aller Seelenruhe ein Löffelchen nach dem anderen in ihren Mund schob und minutenlang langsam kaute, bevor sie endlich schluckte. Er informierte Hendrik und Hendrik bat Turan, Mike abzulösen.

Kurz vor Mitternacht hatte sie es endlich geschafft. Der Teller war leer und Turan führte sie hinauf in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter ihr ab.

Erstaunt blickte Tonya auf das Bett. Mara hatte ihr frische Unterwäsche hingelegt und einen Schlafanzug. Ihren Schlafanzug. Sie warf einen Blick in den Kleiderschrank. Er war zwar nur zur Hälfte gefüllt, aber es waren alles ihre Kleidungsstücke.

Jetzt grinste Tonya. „Geht doch", flüsterte sie und verließ zufrieden den Kleiderschrank. Langsam entspannte sie sich. Es war sehr anstrengend gewesen, den ganzen Tag stoisch am Tisch zu sitzen. Jetzt musste sie sich bewegen. Aber nicht im Zimmer. Wer weiß, ob nicht irgendwo auf einem der Bäume jemand saß, der sie durch die Fensterscheiben hindurch beobachtete. Im Badezimmer aber war sie sicher.

Sie hüpfte. Sie dehnte sich, machte Kniebeugen und Liegestützen. Wie gut, dass das Badezimmer so groß war. Es reichte zwar nicht um sich auszupowern, aber es reichte, um ihre Muskulatur aufzulockern. Dann wusch sie sich, zog ihren Schlafanzug an und ging zurück in ihr Zimmer.

Jetzt entdeckte sie auch ihre Pokale im Wandregal und sie sah die Bücher auf dem Schreibtisch. Auch das Buch über die Selbstverteidigung war da, es lag auf dem Nachttisch. Tonya lächelte. Sie hatte also einen kleinen Sieg errungen. Wohl denn. Der Kampf ging weiter.

Der nächste Tag lief ähnlich ab. Hendrik fand sie wie immer auf dem Boden liegend, aber er registrierte zufrieden, dass sie ihre eigene Kleidung trug und nicht mehr halbnackt auf dem Boden schlief. Er suchte frische Kleidung aus, brachte Tonya ins Bad und ließ ihr eine halbe Stunde Zeit sich zu waschen und anzuziehen. Dann setzte er sie in der Küche an den Tisch und stellte ihr eine Schale Müsli zum Frühstück vor.

Sie saß natürlich auch noch am Tisch, als Hendrik und Florian zum Mittagessen kamen. Hendrik schöpfte zwei große Löffel vom Kartoffel-Gemüse-Gratin auf den Teller und schob ihn Tonya hin. Die Hälfte davon hatte sie bis zum Abend gegessen, dann kam noch eine Scheibe Brot mit Käse darauf dazu. Und wieder saß Tonya den ganzen Tag bis zum späten Abend am Tisch, abwechselnd bewacht von vier Männern, aber sie aß und trank.

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Wie ein Verrückter drosch Hendrik auf den Sandsack in seinem privaten Trainingsraum ein. Es war ein neuer Sandsack, mit der höchsten Qualität genäht und besonders verstärkt an den Nähten. Er durfte deutlich mehr aushalten, wie der alte, den er wenige Tage zuvor in seiner Wut kaputtgedroschen hatte.

Er war so froh gewesen, endlich seine Mate gefunden zu haben und nun das. Egal was er tat, egal wie er sich ihr gegenüber verhielt, sie ignorierte ihn bis er ihre Aufmerksamkeit forderte, doch dann bewegte sie sich nur im Schneckentempo und blickte ihn emotionslos an.

„Sind alle Klamotten noch trocken", fragte Florian grinsend und warf sein Handtuch auf einen der Bänke, bevor er zum Laufband ging.

„Ja", nickte Hendrik und drosch weiter auf den Sandsack ein. „Sind ja ihre Klamotten", fügte er keuchend hinzu.

„Sie zieht sie also an." Bemerkte Florian und fing an zu laufen.

Hendrik nickte. „Mehr aber auch nicht."

Florian beobachtete seinen Freund. Er hatte sich im Training immer schon gerne verausgabt, aber noch nie hatte er ihn so frustriert und verbissen trainieren sehen, wie gerade. Dieses kleine Biest.

Nach nur fünf Minuten Laufen, stieg Florian vom Laufband und stellte sich auf die andere Seite des Sandsacks. Nachdenklich blickte er Hendrik an.

„Meinst du, sie verhält sich auch so, wenn du ihre Familie einlädst?", fragte er.

Schwer schnaufend hielt Hendrik inne und starrte Florian geistesabwesend an. Schließlich griff er nach einem Handtuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Das könnte funktionieren", nickte er nachdenklich und nahm einen großen Schluck aus der Wasserflasche.

„Soll ich sie zum Mittagessen einladen?"

„Aber nicht ihre Eltern", überlegte Hendrik. „Lade ihren Bruder Max ein und seine Frau Vicki."

„Meinst du nicht, ihre Mutter würde eher zu ihr durchdringen?", fragte Florian.

„Vielleicht." Hendrik schüttelte endschieden den Kopf. „Aber ich glaube eher, Melli würde in Tränen ausbrechen, wenn sie Tonya so sieht. Das würde nicht wirklich helfen. Aber zwischen Max und Tonya hat schon immer sowas wie eine Art Rivalität bestanden. Erinnerst du dich, was Melli erzählt hatte? Tonya wollte immer so stark sein wie Max und sie hatte ihn stets herausgefordert. Die beiden haben miteinander trainiert und gegeneinander gekämpft. Zwischen ihnen besteht eine ganz besondere Verbindung. Und Vicki ist ihre einzige Freundin. Außer ihr zählen nur Jungs zu ihrem Freundeskreis. Wenn Tonya irgendwie reagiert, dann am ehesten auf die beiden."

„Du könntest Recht haben", bestätigte Florian. „Ich geh dann mal Max und Vicki holen. Soll ich Mara informieren, oder machst du das?"

„Ich mach das schon", sagte Hendrik. „Ich muss zuvor noch unter die Dusche."

Gehorche, Tonya.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt