Sie hatte sich wieder vor der Balkontür eingerollt und war dort eingeschlafen. Doch als sie am nächsten Tag aufwachte, lag sie noch immer vor der Balkontür. Selbst wenn Hendrik in der Nacht noch in ihrem Zimmer war, hatte er sie nicht wie sonst ins Bett getragen.
„Hendrik, beeile dich. Wir müssen los", hallte eine laute Männerstimme durchs Haus.
Das war Florians Stimme und so wie es sich anhörte, musste er unten in der Küche sein.
„Ich bin gleich fertig", hörte sie Hendrik laut antworten. „Lass dir von Mara noch einen Kaffee geben."
Tonya stand an der Zimmertür und legte ihre Ohren lauschend daran. Sie konnte unten in der Küche ganz schwach etwas klappern hören. Wahrscheinlich hatte Mara ihrem Beta eine Tasse auf den Tisch gestellt. Und sie konnte Hendrik hören. Die Tür zu seinem Zimmer war wohl offen, denn sie konnte seine Schritte deutlich hören. Er pfiff. Nun ja, er versuchte zu pfeifen, aber da war mehr Luft als Ton, und wenn Ton, dann ein sehr schräger Ton, so dass eine Melodie nicht erkennbar war. Dann verstummte er. Die Schritte wurden lauter, eine Tür schloss sich und die Schritte gingen vor ihrer Zimmertür vorbei und die Treppen hinunter. Jetzt traute sie sich, vorsichtig die Tür zu öffnen.
„Mara", sagte Hendrik gerade. „Du kannst heute frei nehmen. Wir werden erst ziemlich spät heute Abend zurück sein. Wir sehen uns morgen Früh wieder, ok?"
„Danke, Alpha", antwortete Mara. „Ich räume noch die Küche auf und werde dann meine Schwester besuchen. Bis morgen."
Eine halbe Stunde später hörte Tonya auch Mara gehen. Wenn sie richtig gehört hatte, war sie heute den ganzen Tag allein. Sie hatte also genügend Zeit, sich etwas zu essen zu machen. Im Kühlschrank würde sie sicher genug finden. Und anschließend konnte sie in Ruhe das Haus erkunden. Es gab mit Sicherheit auch viel zu entdecken. Doch zuerst wollte sie etwas essen. Die Küche kannte sie schon, zumindest das Wichtigste. Sie wusste, wo der Kühlschrank war, und das Besteck hatte sie auch schon gefunden. Neugierig öffnete sie nun eine Schublade nach der anderen und überflog deren Inhalt. Dann machte sie sich etwas zu essen.
Ein Blick durch das Fenster zeigte ihr, dass wieder der gleiche Typ gelangweilt in der Auffahrt stand. Er wartete wohl darauf, dass sie das Haus verließ. Soll er doch. Hendrik hatte ja gesagt, dass sie stets von zwei Männern begleitet werden würde. Sicherheitshalber. Sagte er. Sicherlich würden sie nicht nur für ihre Sicherheit sorgen, sondern auch aufpassen, dass sie nicht abhaute. Tonya schnaubte. Sie war also immer noch gefangen, auch wenn ihr Bewegungsradius deutlich größer geworden war. Aber nun gut. Eines nach dem Anderen.
Frisch gestärkt machte sich Tonya auf Entdeckungstour. Sie begann oben im ersten Stock. Fünf Türen gab es auf diesem Stockwerk, also fünf Zimmer. Sie begann ganz hinten und öffnete dort die erste Tür. Es war ein kleineres Zimmer und es schien unbewohnt. Auch das zweite Zimmer schien unbewohnt. Es waren Schlafzimmer, ähnlich aufgebaut wie ihres, mit eigenem Badezimmer und begehbarem Kleiderschrank, doch deutlich kleiner und die Kleiderschränke waren leer und die Betten nicht bezogen. Nur eine bunte Tagesdecke lag jeweils über den Betten.
Das nächste Zimmer wirkte irgendwie bewohnt und doch nicht so wirklich bewohnt. Das Bett war zwar bezogen. Es lagen auch ein paar persönliche Gegenstände auf dem Schreibtisch. Im Bad stand eine Zahnbürste, jeweils eine Flasche Shampoo und Duschgel, einige Handtücher, und im Kleiderschrank lagen einige T-Shirts und Sporthosen, das war's. Ob der Beta ab und zu hier übernachtete?
Das Zimmer neben dem ihrem aber war bewohnt und alles darin roch nach Hendrik. Sie wollte sich schon umdrehen, doch dann siegte ihre Neugierde. Hendrik war nicht da und würde erst sehr spät nach Hause kommen. Und wenn sie nichts anfasste, würde er sicher auch nicht bemerken, dass sie hier drin war. Also blickte sie sich genauer um.
Sein Bett war genauso groß wie ihres. Eine ganze Familie hätte darin bequem Platz. Über seinem Bett hingen drei Wandleuchten und darüber ein Panoramabild über die ganze Breite des Bettes. Das Motiv des Bildes gefiel ihr. Es zeigte einen See mit viel Wald bei Sonnenaufgang, aufgenommen wahrscheinlich von einem höher gelegenen Aussichtspunkt. Auch in seinem Zimmer gab es einen Schreibtisch und auf dem Bord darüber standen einige Fotographien. Auf einem davon war Hendriks Mutter Adelin neben ihrem Mann Alpha Norman zu sehen.
Tonya betrachtete das Bild. Hendrik hatte viel von seinem Vater. Aber der Ausdruck im Gesicht des alten Alphas war deutlich härter, zynischer, rücksichtsloser. Adelin dagegen wirkte sanft aber irgendwie auch unendlich traurig, verlassen, hoffnungslos.
Wenn Hendrik in die Fußstapfen seines Vaters trat, würde sie dann in ein paar Jahren genauso verloren aussehen, wie Luna Adelin? Tonya erschauderte. Nein, das durfte nicht geschehen. Niemals. Sie würde kämpfen und alles tun, um sich nicht selbst zu verlieren.
Sie riss ihren Blick von diesem Bild weg und blickte sich weiter um. Die Wände waren in einem hellen grau gestrichen, die Möbel anthrazit, aber so, dass noch die Maserung des Holzes erkennbar war. Das Zimmer wirkte kühl und trotzdem gemütlich. Es gefiel ihr und irgendwie passte es auch zu Hendrik.
Tonya schüttelte den Kopf und verließ schnell das Zimmer. Sie wollte nicht, dass das Zimmer ihr gefiel und sie sich irgendwie darin wohl fühlte. Schnell lief sie die Treppe hinunter und hinüber ins Wohnzimmer. Es war hell und gemütlich hier. Sie sah sich nur um, berührte aber nichts. Ein Blick durch das Fenster nach vorne zeigte ihr, dass der bullige Typ immer noch unmotiviert herumstand. Vielleicht könnte sie über den Garten...?
Sie hatte noch nicht einmal die Terrassentür erreicht, da entdeckte sie schon den anderen Typ bei einem der kleinen Hütten. Er hatte sie gesehen und richtete sich auf. Schnell trat Tonya zurück. Es gab nur zwei Wege raus aus dem Haus. Ein Weg nach vorne über die Haustür. Da stand eine Wache. Und es gab noch diesen Weg über den Garten. Und dort stand ebenfalls eine Wache.
Nun denn, vielleicht fand sie auch noch einen dritten Weg. Durch den Keller vielleicht? Sie entdeckte eine Abstellkammer, einen großen Waschraum, eine Sauna – wie schön – und einen großen Trainingsraum. Klasse.
Das letzte Mal hatte sie gefühlt vor einer halben Ewigkeit trainiert. Wenn sie entkommen wollte, dann musste sie fit sein. Solange Hendrik ihr also diesen Freiraum ließ, würde sie essen und trainieren und nach und nach Stück für Stück ihre Umgebung erkunden und abwarten, bis sie ihre Chance bekam.
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Gehorche, Tonya.
Lupi mannariTonya wächst nur mit Brüdern auf und verbringt auch sonst ihre Zeit fast nur mit Jungs. Sie wird bald volljährig, aber einen Mate lehnt sie grundsätzlich ab. Ausgerechnet für sie hatte die Mondgöttin den jungen Alpha des Rudels vorgesehen, der si...