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Schon seit ein paar Minuten stand Tonya reglos unter der Dusche. Sie hatte das Wasser nur schwach aufgedreht, so dass es sich eher anfühlte wie leichter Regen. Konzentriert spürte sie die Tropfen auf ihrer Haut und versuchte den Weg einzelner Tropfen auf ihrer Haut nachzuspüren.

Yani verhielt sich wie ein verträumtes Mädchen, dass sich zum allerersten Mal in einen Jungen verliebt hatte. Das hatte sie sich bisher noch nie getraut. Tonya hatte es ihr verboten. Es war aber auch nicht schwer für Yani, sich an dieses Verbot zu halten, schließlich gab es kein Junge in Tonyas Umfeld, der sie interessiert hätte.

Bei Hendrik aber war es anders. Er war ihr Seelenverwandter, ihr Mate. Der Mann, der es schaffte, ein Feuer in ihr zum Glühen zu bringen und das nur durch seine leichten Berührungen und durch diesen zarten Kuss. Würde Yani singen können, würde sie nun sämtliche Liebeslieder, die sie kannte, trällern.

Tonya passte Yanis Verhalten überhaupt nicht. Dieser Kampf hatte sie sehr viel Kraft gekostet. Max war schon stark, aber Florian hatte sie richtig gefordert. Er stand wie ein Fels in der Brandung und hatte ihren kräftigen Schlägen mühelos standgehalten. Wäre sie nicht so schnell und wendig auf den Beinen, hätte er sie sicher schon nach wenigen Sekunden in das Eck gedrückt. Hendrik hatte das Training erst beendet, als Florian sie im Eck fixiert hatte.

Aber vielleicht war genau das Absicht. Florian hatte sich zurückgehalten. Er hatte nicht gegen sie geboxt, er hatte nur versucht, sie immer wieder in die Ecke zu drücken. Vielleicht wollten sie sie nur bis zur Erschöpfung treiben, damit sie stillhielt, wenn Hendrik sie fest in seine Arme schloss und ihr sogar einen Kuss auf die Wange drückte. Sie war in diesem Moment so fertig gewesen, dass sie sich nicht mehr wehren konnte, als er sie aufhob und aus dem Ring trug.

Yani hatte diese Nähe genossen und sie leider auch, worüber sie sehr wütend war und am liebsten sofort den Trainingsraum verlassen hätte. Doch das ging ja nicht. Selbst wenn Hendrik ihr nicht befohlen hätte, sich noch zu bewegen und zu strecken und zu dehnen, hätte sie das gemacht. So hatte sie es von Max gelernt.

Dann aber ärgerte sie sich doch über sich selbst. Sie hätte den Raum gleich verlassen sollen. So aber musste sie miterleben, wie die beiden Männer sogar mit nacktem Oberkörper gegeneinander kämpften. Sie konnte sehen, wie ihre braungebrannte Haut vor Schweiß glänzte. Sie entdeckte vereinzelte Schweißtropfen, die sich einen Weg suchten über die harten Muskeln. Sie sah, wie ihre Bewegungen ihre Muskeln spielen ließen und die Konturen ihrer Sixpacks lebendig wurden.

Am schlimmsten aber war, dass sie Hendriks ausgeprägten Geruch noch sehr viel deutlicher wahrnehmen konnte. Fast konnte sie seine Anwesenheit körperlich spüren und tief in sich verspürte sie auch einen stetig wachsenden Wunsch, mit ihren Fingern die Konturen seiner Muskeln nachzufahren. Es hatte sie unmenschliche Kraft gekostet, sich von Hendriks Anblick loszureißen und den Raum in angemessenem Tempo zu verlassen, so dass niemand auf die Idee kommen konnte, sie würde fliehen.

Endlich drehte sie das Wasser ab. Sie trocknete sich nicht ab, sondern warf nur den langen flauschigen Bademantel über und band ein Handtuch um den Kopf. Auf nackten Füßen ging sie zum kleinen Tischchen in ihrem Zimmer. Daran, sich etwas zu essen und zu trinken mit aufs Zimmer zu nehmen, hatte sie noch gedacht. Sie war froh darüber. Um nichts in der Welt würde sie jetzt nochmals den beiden Männern begegnen wollen.

Und wieder schickte sie ein stilles Dankeschön an Mara, die immer einige belegte Brote und Obst für sie bereitlegte. Müde und gesättigt legte sie sich auf ihr Bett und war fast sofort eingeschlafen.

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Zum zweiten Mal an diesem Tag war Hendrik im Trainingsraum.

Kurz nachdem Tonya den Raum verlassen hatte, hatten Hendrik und Florian ihr Training abgebrochen, hatten sich geduscht und waren anschließend ins Rudelhaus gegangen. Am liebsten hätte er sofort wieder umgedreht und wäre nach Hause gegangen, den sein Vater wartete bereits auf ihn. Und seinem Gesicht nach war er ziemlich sauer.

Alpha Norman war sogar richtig wütend gewesen. Ein pflichtbewusster Alpha hatte sich gleich nach dem Frühstück um sein Rudel zu kümmern und nicht erst um die Mittagszeit. Und außerdem wäre es an der Zeit, endlich seine Gefährtin und zukünftige Luna dem Rudel vorzustellen.

Er wäre auf einem guten Weg, aber sie wäre noch nicht soweit, hatte er geantwortet. Doch damit erreichte er nur, dass sein Vater ihn deutlich zurechtwies. ER wäre der Alpha. ER habe zu bestimmen, was gemacht würde. SIE habe zu gehorchen. SIE müsse ihre Pflicht erfüllen.

Alpha Norman war immer lauter geworden und hatte die Einwände seines Sohnes gar nicht erst wahrgenommen oder mit einer herrischen Handbewegung abgewehrt. ER, Hendrik, müsse endlich lernen, den Posten des Alphas voll und ganz auszufüllen.

Hendrik dreschte auf den Sandsack ein. Er musste mit Tonya reden. Aber er wusste auch, dass es deutlich zu früh dafür war. Würde er jetzt versuchen, sie zu drängen, würde sie ...!? Würde sie sich vielleicht wieder zurückziehen? Ausgerechnet jetzt, nachdem es ihm gelungen war, ihre Mauer ein kleines Stückchen aufzubrechen. Er durfte nicht riskieren, dass sie diese Mauer wiederaufbaute.

Oder würde sie sich nun eher wieder wie das kratzbürstige, wehrhafte, wilde Mädchen verhalten, das seinen Beta Florian beim ersten Treffen so erfolgreich abgewehrt hatte? Wohl eher nicht. Seine kleine Mate war nicht dumm. Sie hatte längst bemerkt, dass er mit der stoischen, wortkargen, willenlosen Tonya überhaupt nicht gut umgehen konnte.

„Hier bist du", unterbrach Florian Hendriks Gedanken.

Ein paar Minuten lang beobachtete Florian Hendrik dabei, wie er mit viel Wut den Sandsack bearbeitete, bevor er endlich erschöpft innehielt und sich schwer atmend auf eine der Bänke an der Wand niederließ.

„Wirst du mit ihr reden?", fragte Florian neugierig.

„Würdest du es an meiner Stelle tun?", fragte Hendrik zurück.

„Ich wäre genauso unsicher wie du", gestand Florian und setzte sich neben Hendrik.

„Du hast sie heute Morgen erlebt", murmelte Hendrik. „Hast du sie gespürt?"

„Was gespürt?" Florian blickte Hendrik fragend an.

„Diese Kraft in ihr."

Florian lehnte sich zurück. „Ja", gab er zu. „Sie hat die Kraft und den Mut einer Alpha-Wölfin."

„So ist es", bestätigte Hendrik. „Und ich frage mich, woher sie die hat."

„Ob sie es weiß?"

„Glaube ich nicht."

Hendrik schüttelte den Kopf. Er hatte die Boxhandschuhe abgenommen und die Bandagen entfernt und in den Wäschekorb geworfen. Mit dem Handtuch wischte er sich den Schweiß vom Körper und warf auch dieses in den Wäschekorb.

„Ich habe diese Kraft bei niemandem aus der Familie Burmann gespürt", überlegte Hendrik. „Ihr Bruder Max ist stark und ein sehr guter Kämpfer, aber er würde niemals ein Alpha werden können. Er hätte das Zeug zu einem guten Beta, aber nicht zu einem Alpha. Ihr Vater David hat sich in der Fabrik hochgearbeitet mit viel Einsatz und Fleiß. Auch er würde ein guter Beta abgeben, doch nie ein Alpha. Und Melli ist eine sehr liebevolle Hausfrau und Mutter. Sie würde ihren Gefährten und ihre Welpen mit ihrem Leben verteidigen, aber ansonsten ist sie von ihrer Natur aus eher unterwürfig. Auch bei ihren anderen Brüdern konnte ich diese Kraft nicht spüren. Nur bei Tonya, doch woher hat sie diese Kraft?"

„Man sagt, dass Eigenschaften und Kräfte manches Mal eine Generation überspringen können. Kennst du die Eltern von David und Melli?"

„Ich kenne Davids Eltern. Ich meine, ich kannte Davids Eltern. Es waren einfache Wölfe. Davids Vater ist vor ein paar Jahren bei einem Angriff von Rudellosen ums Leben gekommen, genauso wie Davids älterer Bruder. Davids Mutter starb kurz darauf aus Gram über den Verlust ihres Gefährten. Von dieser Seite jedenfalls kann es nicht kommen. Von Mellis Eltern weiß ich nichts. Melli ist in einem anderen Rudel aufgewachsen und hat David auf einem Mateball kennengelernt."

„Vielleicht solltest du Kontakt zu diesem Rudel aufnehmen."

„Oder Melli einfach selbst fragen."

„Und wann willst du mit Tonya reden?"

„Ich weiß es nicht", seufzte Hendrik. „Aber ich weiß, dass es jetzt noch viel zu früh dazu ist."

Gehorche, Tonya.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt