Du hast Tonya entführt und ihr das genommen, was ihr am wichtigsten ist – ihre Freiheit.
Automatisch zog er Hemd und Hose aus, holte sich eine kurze Trainingshose und ein Muskelshirt aus dem Kleiderschrank und zog es an. Immer noch tief in Gedanken versunken, machte er sich auf den Weg in sein Trainingsraum im Keller.
Er stellte sein Laufband eine Stufe höher ein wie sonst, wenn er sich aufwärmen wollte und joggte los.
Du kannst tun und lassen, was immer du willst. Sie hat sich im Griff und sie zeigt dir nicht, was sie denkt oder fühlt.
Stimmt. Selbst die wenigen Male, als sie ihm in die Augen gesehen hatte, hatte er das Gefühl gehabt in einen leeren Raum zu blicken. Kann sich jemand wirklich so gut im Griff haben?
„Unsere Augen sind das Fenster zur Seele. Augen lügen nicht. Blicke einem Menschen tief in die Augen und du weißt mehr über ihn, als Worte jemals sagen können." Das waren die Worte seiner Großmutter, als er, im zarten Alter von sechs Jahren sie mal fragte, warum denn niemand seinem Vater in die Augen schaute.
Sie hatte geseufzt und gesagt: „Niemand traut sich, einem Alpha in die Augen zu schauen aus Angst, der Alpha könnte das als Angriff auf seine Stellung betrachten. Aber das ist falsch. Es ist so wichtig, einem Menschen in die Augen zu schauen, denn nur so findest du heraus, ob du ihm auch trauen kannst, denn die Augen lügen nicht."
Jedem, dem er begegnete hatte er in die Augen gesehen. „Ich kann gar nichts sehen", hatte er traurig zu seiner Großmutter gesagt. „Auch das muss gelernt sein, mein Schatz", hatte sie geantwortet. „Du kannst die Sprache der Augen nicht lernen, wenn du versuchst, sie nur mit deinem Verstand zu verstehen. Du brauchst dazu auch dein Herz."
Er hatte nie wirklich gelernt, die Sprache der Augen zu verstehen. Seine Großmutter war viel zu früh gestorben und sein Vater lehnte solchen Blödsinn grundsätzlich ab. Das war wohl auch der Grund, weshalb er nichts in ihren Augen sah, oder das, was er darin zu erkennen glaubte, nicht oder falsch verstand. Er hatte ihr aber auch noch nie lange genug in die Augen gesehen und sich das angesehen, was sie ihm verrieten. Viel zu schnell hatte er sie wieder losgelassen und zugelassen, dass sie sofort wieder ihren Blick senkte.
Er joggte noch immer auf dem Laufband, als Florian in den Trainingsraum kam. Er stellte mehrere Getränkeflaschen ab und legte sein Handtuch auf die Bank, bevor er sich daraufsetzte, die Beine verschränkte und Hendrik aufmerksam beobachtete.
„Hattest du alles mitgehört?", fragte Hendrik schwer atmend und stieg vom Laufband.
„Ja", nickte Florian.
„Und?"
„Könnte was dran sein", nickte Florian.
„Haben sie noch was gesagt?", wollte Hendrik wissen, während er sich den Schweiß abwischte.
„Nein", schüttelte Florian den Kopf. „Sie saßen wie geschockt auf der Rückbank."
„Weißt du, wo Max arbeitet?" Hendrik bandagierte sich seine Hände bevor er sich die Boxhandschuhe überstreifte.
„Soweit ich weiß, arbeitet er in derselben Fabrik wie sein Vater", erwiderte Florian.
„Und in seiner Freizeit trainiert er seine Geschwister. Dafür, dass er keine Kampfausbildung hat, ist er verdammt gut, Florian. Und er hat seiner Schwester eine ganze Menge beigebracht."
„Oh ja", schnaubte Florian und dachte an seine erste Begegnung mit Tonya.
„Frag ihn, ob er Lust hätte, ein Trainingscenter für unsere Kids aufzubauen", unterbrach Hendrik Florians Gedanken.
„Sport und Kampf wird doch in der Schule unterrichtet", warf Florian ein.
„Schon", nickte Hendrik. „Aber mit dem Training lässt sich sicherlich schon sehr viel früher anfangen, spielerisch zunächst, dann für die guten zusätzlich zur Schule. Wenn er annimmt, biete ihm an, regelmäßig bei den Kämpfern mit zu trainieren. Mit einer professionellen Kampfausbildung könnte er einer unserer besten Kämpfer und Trainer werden."
„Ich kümmere mich darum", versprach Florian. „Und wie soll es mit dir und Tonya weitergehen?"
Hendrik seufzte. „Ich glaube Vicki. Ich glaube ihr deswegen, weil ich diese Kraft in Tonya spüre. Mental ist sie mir mindestens ebenbürtig. Und sie hat deutlich mehr Geduld wie ich. Wenn ich ihr Verhalten also durchbrechen will, muss ich mir was einfallen lassen und ich glaube, ich weiß auch schon wie."
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Unruhig lief Tonya in ihrem Zimmer hin und her. Sie hätte im Traum nicht damit gerechnet, dass Hendrik ihren Bruder und ihre Schwägerin zum Essen einladen würde.
Fast hätte sie ihre Rolle vergessen aus Freude darüber, Vicki und Max zu sehen. Doch schnell hatte sie sich wieder im Griff. Allerdings hätte sie nie im Leben damit gerechnet, dass ihr Verhalten ihren Bruder so schockte, dass er es tatsächlich wagen würde, den Alpha anzugreifen.
Sie war nur ein kurzer Moment geschockt gewesen, dann überwog ihre Wut. Warum hatte er sich nicht gleich für sie eingesetzt? Warum hatte er überhaupt zugelassen, dass sie mit Gewalt aus ihrer Familie gerissen wurde? Warum hatte er reglos zugesehen, wie die bulligen Typen sie auf den Boden drückten und fesselten?
Sollen sie sich doch fetzen. Sie schnaubte wütend, aber zufrieden.
Florian hatte sie einfach in ihr Zimmer geschoben, die Tür geschlossen und abgesperrt. Sie versuchte zu lauschen. Zunächst hörte sie auch noch Kampfgeräusche. Es hörte sich so an, als ob Stühle umflogen und gegen andere Möbel oder gegen die Wand krachten. Sie hörte auch Vicki schreien. Vielleicht zerlegten sie gerade das Esszimmer? Es polterte noch einige Male heftig und dann herrschte Stille.
Hoffentlich tat Hendrik Max nichts an. Hendrik war der Alpha und Max hatte ihn angegriffen. Das konnte nicht gut ausgehen. Nun machte sie sich doch Sorgen. Hatte Hendrik ihren Bruder etwa umgebracht? Max war gut, das wusste sie, aber Hendrik war größer und stärker und besser trainiert. Oder hatte Hendrik ihren Bruder zusammengeschlagen und nun in den Kerker werfen lassen?
Was sollte sie jetzt tun? Ihren Plan aufgeben und aufhören, die Unnahbare zu spielen? Aber dann hätte sie verloren.
Unruhig lief sie hin und her, stoppte immer wieder an der Tür um zu lauschen, konnte aber nichts hören, und lief weiter unruhig hin und her.
„Scheiße, nein", flüsterte sie, blieb an der Balkontür stehen und atmete mehrmals tief durch.
Keiner hatte Rücksicht auf sie genommen. Keinen hatte es interessiert, was sie möchte oder nicht möchte. Hendrik hatte sie gewaltsam entführen lassen und ihre Familie hatte keinen Finger gerührt um ihr zu helfen. Warum also sollte sie sich jetzt Gedanken um sie machen?
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Gehorche, Tonya.
WerewolfTonya wächst nur mit Brüdern auf und verbringt auch sonst ihre Zeit fast nur mit Jungs. Sie wird bald volljährig, aber einen Mate lehnt sie grundsätzlich ab. Ausgerechnet für sie hatte die Mondgöttin den jungen Alpha des Rudels vorgesehen, der si...