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Er hätte noch ewig so stehen können und seufzte deshalb enttäuscht auf, als Tonya sich vorsichtig aus der Umarmung löste und einige Schritte zurückwich. Aber er hielt sie nicht zurück.

Er hatte jetzt schon einige Seiten von Tonya kennenlernen dürfen, aber so, wie sie nun vor ihm stand, kannte er sie noch nicht. Sie wirkte unsicher und hilflos. Scheu wanderten ihre Augen hin und her, als hätten sie Angst, sich auf einen Punkt zu konzentrieren. Manchmal schien es so, als ob sie etwas sagen wollte, aber dann schluckte sie und schloss ihre Lippen, als fürchte sie, das falsche zu sagen.

Erst als er in seine Hosentasche griff, den Schlüssel herausholte und ihr reichte, blickte sie auf und starrte ihn an.

„Du entscheidest", sagte er leise. „Du entscheidest, ob du sofort gehen möchtest, oder ob du mir zuerst noch Fragen stellen möchtest."

Sie rührte sich nicht, sondern starrte ihn nur ungläubig an. Vorsichtig griff er nach ihrer Hand und legte den Schlüssel hinein. Dann trat er zurück und verließ den Ring. Ihre Augen folgten ihm, als er den Picknickkorb holte, ihn zur Bank trug und alles auspackte was er darin fand. Dann setzte er sich rittlings auf das eine Ende der Bank und blickte Tonya erwartungsvoll an.

„Wenn du mir noch Fragen stellen möchtest, können wir nebenher ja die leckeren Sachen von Mara genießen, meinst du nicht auch?"

Jetzt erst bewegte sich auch Tonya. Sie folgte ihm und setzte sich ihm gegenüber auf die andere Seite der Bank.

„Wirst du auf all meine Fragen antworten?"

„Ich weiß nicht, was du mich fragen willst", antwortete Hendrik leise. „Vielleicht hast du Fragen, die ich nicht beantworten kann oder darf. Aber alle anderen Fragen werde ich dir beantworten. Versprochen."

„Und du wirst nicht lügen?"

„Ich werde nicht lügen", versprach Hendrik und blickte sie offen an.

„Ok", flüsterte Tonya und senkte ihren Blick. Ausgerechnet jetzt, wo sie fragen durfte, wollten ihr keine Fragen einfallen. Was war nur los mit ihr?"

‚Du könntest anfangen mit der Frage, warum er dich entführt hat', half Yani ihr freundlich weiter.

‚Ja, könnte ich', überlegte Tonya. Vielleicht hatte Yani Recht. Erst mal hören, was er dazu zu sagen hatte. Ok. Sie atmete nochmals tief durch.

„Warum hast du mich entführt?", fragte sie dann.

„Du kennst doch unsere Gesetze, oder nicht?", fragte Hendrik zurück. „Diese Gesetze gibt es schon seit Urzeiten. Sobald ein Werwolf seine Mate gefunden hat, nimmt er sie mit. Dieses Gesetz gilt noch stärker für den Alpha."

„Blödes Gesetz", brummte Tonya.

„Vielleicht, aber wir sind alle damit aufgewachsen. Wir bekommen solche Regeln bereits mit der Muttermilch eingeflößt. So ist es nun mal, so wird es immer sein. Was glaubst du, wie oft mein Vater mir all die Regeln, Pflichten und Rechte eines Alphas vorgebetet hat? Gesetz ist Gesetz. Du hattest dich Florian widersetzt und damit meinem Befehl. Ich konnte das nicht zulassen. Nicht als Mann und erst recht nicht als Alpha. Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht, sondern nur daran, dass du meine Mate bist und ich das Recht habe, dich mitzunehmen, egal wie."

„Du bist einfach danebengestanden und hast zugesehen, wie mich zwei deiner Männer überwältigt und wie ein Paket verschnürrt haben."

„Dein Lehrer hatte mich vorgewarnt", murmelte Hendrik.

„Herr Dunning?", fragte Tonya überrascht.

„Ja." Hendrik nickte und lächelte Tonya an. „Er hatte gesagt, sie wird nicht kommen, zumindest nicht freiwillig. Und er sagte, dass es wohl kein Junge aus der Schule wagen würde, dich anzufassen, auch dann nicht, wenn er merken würde, dass du seine Mate bist. Es sei denn er würde mit dir kämpfen wollen und riskieren wollen, dass du ihm die Augen auskratzt."

„Das hat er gesagt?", fragte Tonya mit erstaunt aufgerissenen Augen.

„Ja. Hat er", lächelte Hendrik. „Ich wollte ihm nicht glauben. Aber dann sah ich, wie du gegen Carl und Moritz gekämpft hast. Ich habe nicht eingegriffen, weil ich wusste, dass du niemals freiwillig mitgekommen wärst. Aber du bist nun mal meine Mate und du gehörst – zu mir."

„Warum hattest du Max und Vicki eingeladen?", wollte Tonya wissen.

„Eigentlich war es Florians Idee, jemand aus deiner Familie einzuladen", gestand Hendrik. „Wir dachten zuerst an deine Mutter, aber ich denke, Melli wäre in Tränen ausgebrochen, wenn sie dich so gesehen hätte. Vicki ist deine beste Freundin und Max der Bruder, mit dem du viel Zeit verbracht hast. Vicki kennt dich übrigens sehr gut. Sie war es, die mir dein Verhalten erklärt hat. Sie bat mich, dich gehen zu lassen, aber das konnte ich nicht. Ich konnte mich nur zurückhalten und abwarten, bis du volljährig warst und selbst erkennen konntest, dass du meine Mate bist." Hendrik war immer leiser geworden und hatte dabei Tonya keinen Augenblick aus den Augen gelassen.

„Ja", bestätigte Tonya. „Vicki kennt mich viel zu gut."

Sie schwiegen und naschten dabei von den Köstlichkeiten vor ihnen.

„Danke", flüsterte Tonya plötzlich.

„Wofür?", fragte Hendrik überrascht.

„Dass ich an meinem Geburtstag zu meiner Familie durfte", sagte sie so leise, dass sie kaum zu verstehen war. „Aber warum hast du mich am nächsten Tag nicht zu meiner Mutter gelassen?"

Hendrik senkte den Kopf. Er konnte ihr nicht sagen, was er wusste, noch nicht. Nicht, solange er noch keine Bestätigung dafür hatte, die das, was er mittlerweile in Erfahrung gebracht hatte, bestätigten.

„Wir haben wirklich Probleme mit Rudellosen", sagte er schließlich und hob schnell abwehrend seine Hände. „Bitte Tonya, das hat nichts mit Unterstadt oder Oberstadt zu tun. Der östliche Bereich unseres Reviers ist bereits doppelt geschützt. Und hier sowohl die Grenze zur Unterstadt als auch die Grenze zur Oberstadt. Aber die südliche Seite der Unterstadt wurde jetzt erst verstärkt, nachdem sich Hinweise mehrten, dass die Rudellosen auch von dieser Seite her In unser Revier eindringen wollen. Deine Sicherheit steht bei mir an oberster Stelle, Tonya. An deinem Geburtstag waren mehrere Männer zusätzlich im Wald und haben dich abgesichert. Aber am Tag darauf waren diese Männer wieder mit anderen Aufgaben betraut."

Hendrik atmete heimlich auf. Er hatte ihr durchaus die Wahrheit gesagt, auch wenn er verschwiegen hatte, dass er an diesem Tag eigentlich selbst mit Melli reden wollte.

„Darf ich dich auch etwas fragen?" Hendrik blickte Tonya bittend an. „Warum wolltest du an diesem Tag unbedingt zu deiner Mutter?", fragte er, als sie zustimmend nickte.

„Ich wollte mehr über diese Kette hier erfahren", antwortete Tonya leise und ihre Finger umschlossen das von ihrem Körper aufgewärmte Metall der alten Münze.

Hendrik nickte und senke den Blick. Er hatte richtig vermutet. Seine kleine Mate hatte keine Ahnung, welche Kraft tatsächlich in ihr steckte. Er konnte sie fühlen, auch jetzt, als sie ihm ihre unsichere und verletzliche Seite gezeigt hatte. Diese Kraft war da, tief in ihr drin. Er würde herausfinden, woher sie diese Kraft hatte. Aber bis dahin wurde er ihr nichts darüber verraten.

Langsam hob er seinen Blick. Tonya schien seine Erklärung so zu akzeptieren. Sie saß jetzt ganz still da und starrte nachdenklich vor sich hin. Er störte sie nicht. Schließlich stand sie auf.

„Ich muss nachdenken", sagte sie nur und ging zur Tür.

„Tonya", flüsterte Hendrik und folgte ihr. „Unser Mateband ist noch nicht besiegelt. Es wird erst dann besiegelt sein, wenn wir uns gegenseitig markiert haben und uns gepaart haben. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dich an meiner Seite zu haben. Ich weiß, du wirst eine starke und selbstständige Luna sein, genau das, was ich mir wünsche. Aber ich verspreche dir, dass ich dich zu nichts zwingen werde. Du entscheidest. Aber bitte, gib mir eine Chance, dir zu beweisen, dass ich es ehrlich meine."

„Ich muss nachdenken", wiederholte Tonya leise, dann schloss sie die Tür auf. Doch bevor sie hinaus ging, drehte sie sich nochmals um. „Bitte komme heute Nacht nicht zu mir. Wir sehen uns dann beim Frühstück."

Gehorche, Tonya.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt