Kapitel 2 - Vincent

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„Sind Sie Single?", fragt er plötzlich geradeheraus. 

Was ist das denn jetzt für eine Frage? Ich lache kurz auf, gehe zum Waschbecken und wasche meine Hände gründlich. „Wie fühlen Sie sich?"

„Als wäre ich angeschossen worden...", erwidert er.

Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen und trockne meine Hände ab. Dabei wende ich mich wieder dem Mann zu.

„Wo sind meine Sachen?"

„Im Müll. Ärzte sind da nicht gerade zimperlich. Alles zerrissen, oder aufgeschnitten. Mein Bruder holt gerade ein paar Sachen."

Und wie auf Kommando kommt Noah rein. Er hat eine Jogginghose dabei, sowie den alten Morgenmantel unseres Vaters. Obwohl der Unfall schon Jahre her ist, habe ich das Schlafzimmer unserer Eltern nie ausräumen können.

Kritisch betrachte ich den Mann, der sich halb auf der Liege aufgerichtet hat und sich die Seite hält. Die Schmerzen sind ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Können Sie laufen?", frage ich daher. Bei seinem Stolz würde er die Frage vermutlich sogar bejahen. Deswegen gehe ich in dem Zimmer zu den hinteren Schränken. Aber ein faltbarer Rollstuhl ist hier nicht. Vielleicht an der alten Anmeldung. Die drei Behandlungszimmer sind schnell durchsucht. Und dann finde ich tatsächlich einen, klappe ihn auseinander und schiebe ihn zum kleinen OP.

Noah hilft Vincent gerade in den Morgenmantel. Die Hose hat er schon an. Sie rutscht etwas, sitzt zu tief. Das Shirt ist vielleicht eine Nummer zu groß.

Ich schiebe den Rollstuhl an den OP Tisch. „Hier, setzen Sie sich."

Vincent stützt sich von der Liege ab und Noah hilft ihm in den Rollstuhl. Dann schiebt Noah den Mann aus der Praxis, biegt um die Ecke und schiebt ihn die kurze Strecke herüber zur Villa. Ich schließe die Praxis ab und folge etwas langsamer.

Die Villa hat mein Vater mit einem alten Freund entworfen und ist mit nur zwei Etagen nicht besonders groß. Dafür hat es viele Fenster und ist leicht an die europäische Bauweise von Schlössern angelehnt mit Erkern und einem Turm.

Der Blick von Vincent erfasst den Garten vor der Villa, den großen Teich mit der Brücke, die zum hinteren Garten führt. „Sie haben es wirklich schön hier."

Ja, deswegen auch die Frage, ob ich Single bin, vermute ich. Aber das kann er vergessen. Außerdem lässt man sich nicht mit seinen Patienten ein.

Ich gehe ein paar Schritte schneller und öffne die große Tür. Mein Blick wandert zur Treppe. Aber das Turmzimmer kann ich ihm nicht als Gästezimmer geben. Die Treppen schafft er in seinem Zustand noch nicht. Aber vielleicht wird er eh bald abgeholt.

Als Noah den Rollstuhl in den Eingangsbereich schiebt, bleibt auch er unschlüssig stehen. Vincent nutzt die Zeit, sich ausführlich umzusehen. Der Flur ist hell und die Fliesen sind aus Marmor. Zwei kleine Statuen aus Afrika stehen auf Beistelltischen. Eine Kommode und ein Schrank für Jacken stehen nahe der Tür. Da der Eingangsbereich sehr großzügig geschnitten ist, wirkt er sehr schlicht und spartanisch eingerichtet.

Vielleicht sollte ich die Statuen in Sicherheit bringen, denn Papa mochte sie sehr. Ob ich sie vor Noah oder dem ungebetenen Gast in Sicherheit bringen will, möchte ich für den Moment nicht näher beleuchten und nicke Noah daher nur knapp zu. „Wohnzimmer", weise ich meinen Bruder an. „Ich bin gleich wieder da." Schnell gehe ich die Treppe hoch in mein Zimmer. Dort räume ich ein paar Schubladen aus, bis ich es gefunden habe. Die alte Uhrensammlung meines Vaters. Das letzte Mal wurde der Wert auf 8500 Dollar geschätzt. Zusätzliche 500 Dollar kann ich Noah jetzt noch in die Hand drücken. Die fehlenden 1000 Dollar kann er vielleicht raus feilschen.

Schuld und schuldigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt