Kapitel 5 - Sekundäre Fusion

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Ich setze mich auf die große Couch direkt am Fenster und blättere durch das Inhaltsverzeichnis, schlage das gesuchte Kapitel auf und suche die passende Seite.

Eine Bewegung lässt mich aufschauen.

Vincent hat sich umgezogen. Er trägt nun eine marineblaue Stoffhose und einen hellen Pullover. Locker lehnt er an der Wand, verschränkt die Arme und lächelt mich an.

Ich kann nicht leugnen, dass er attraktiv ist. Die kleinen Fältchen an seinen warmen, braunen Augen und das Glänzen darin, das von Intelligenz und Abenteuerlust zeugen. Sein einnehmendes Lächeln und der sorgsam gestutzte Drei-Tage-Bart, der ihm wirklich gut steht.

Er kommt näher und setzt sich auf die andere Couch, dabei sieht er interessiert zu dem dicken Wälzer auf meinem Schoß. „Interessantes Buch?"

„Oh ja", erwidere ich seufzend und kann den Sarkasmus in meiner Stimme nicht verbergen. „Wirklich gut geschrieben."

„Tatsächlich? Bekomme ich eine Kostprobe?", fragt er und schmunzelt breit.

Ich lache kurz auf. Na, wenn er unbedingt mag, soll er eine Kostprobe der Fachliteratur bekommen. Also suche ich schnell nach einem besonderen Satz, um ihn vorzulesen: "Der aufsteigende und absteigende Kolonanteil (Cola ascendens et descendens) sowie beide Kolonflexuren (Flexurae hepatica et splenica) sind relativ fixiert aufgrund der sekundären Fusion ihrer Mesenterien mit dem parietalen Bauchfell...", ich stoppe kurz, schaue vom Text auf und grinse Vincent an. „Und so weiter, und so weiter..."

Vincent nickt mehrmals und macht dabei ein unverschämt gut aussehendes und ernstes Gesicht. „Klingt logisch."

Erneut muss ich auflachen. Laut und herzhaft. Es ist lange her, dass ich so lachen konnte. Und er hat mich heute schon ein paar Mal zum Lachen gebracht. „Wirklich? Und was haben Sie verstanden?", hake ich nach.

„Nun, es geht um eine sekundäre Fusion. Keine primäre Fusion. Und irgendwann geht der Reaktor hoch. Oder so."

Ich grinse breit. Sein Humor ist toll. Und er lächelt dabei so einnehmend. Die Art von Lächeln, bei dem ich mich wohl fühle und mir wünsche, ihn trotz aller Bedenken näher kennenzulernen. „Naja, nicht ganz. Aber immerhin sind zwei Wörter hängen geblieben."

„Mal ganz im Ernst...", beginnt er und räuspert sich kurz. „Sie verstehen das?"

„Ja, natürlich. Ich habe Medizin studiert, sechs Jahre als Assistenzarzt gearbeitet und meinen Facharzt gemacht. Das ist ganz normale Lektüre."

„Würde mir Albträume bescheren", gibt er schnaufend zu. „Sprechen Sie eine Fremdsprache?"
„Latein und Französisch. Ich wollte noch Italienisch lernen, aber dafür fehlte dann doch die Zeit. Und Sie?"

„Spanisch. Meine Familie hat spanische Wurzeln."

„Auch eine schöne Sprache. Und dann haben Sie keinen spanischen Namen?"

Vincent schweigt einen Moment, sein Gesichtsausdruck wirkt nachdenklich, sein Blick ist ein wenig in die Ferne gerückt. Aber dann lächelt er. Als habe er eine Entscheidung getroffen. 

„Pablo. Das ist eigentlich mein Rufname. Ich heiße Pablo Vicente, aber die meisten nennen mich immer nur Vincent. Es klingt amerikanischer. Haben Sie einen zweiten Vornamen?"

„Nein, nur Clara." Ich blicke wieder auf das Buch. Pablo also. Aber es scheint, er wird lieber Vincent genannt. Immerhin nennen die meisten ihn ja so und er stellte sich mir als Vincent vor. „Lesen Sie gerne?"

„Gelegentlich. Mir fehlt meist die Zeit dafür."

„Glauben Sie, Sie schaffen es die Treppen hochzusteigen?"

Schuld und schuldigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt