Ich hebe die Augenbrauen. "Scheherezade? Kein guter Vergleich."
"Warum? In 1001 Nächten hat sie ihren Mann zu einem besseren Menschen gemacht. Er war kein Tyrann mehr und hat aufgehört zu morden."
"Der Scheich hat jede Nacht eine Jungfrau geheiratet und sie am nächsten Morgen ermordet, damit sie nicht fremd geht. Scheherezade wollte dies unterbinden und bot sich ihm selbst als Frau." Ich seufze leise, denn als Teenager habe ich viele dieser Geschichten geliebt. "Sie hat diese Geschichten erzählt, um am Leben zu bleiben. Um noch einen weiteren Tag zu leben. 1000 Nächte hat sie gekämpft, für sich und all die Frauen im Land, die dem Scheich sonst zum Opfer gefallen wären."
"Aber er hat sich gebessert."
"Es ist bloß ein Märchen, eine Geschichte."
"Eher eine Überlieferung. Ich glaube fest an einen wahren Kern."
"Und der Kern ist eindeutig: Sie hat sich geopfert."
"Aber sie lebten lange und glücklich, bis an ihr Lebensende."
"Verlangst du allen Ernstes solch ein Opfer von mir?"
"Du weißt, ich würde dir nie etwas antun, Liebes. Dein Leben wäre in keiner Sekunde in Gefahr."
Natürlich packt er mich an meiner empfindlichen Stelle. Ich bin Altruist, ein Philantrop, ein Menschenretter, Arzt mit Leib und Seele. Obwohl ich kein besonders gläubiger Christ bin, ist Nächstenliebe für mich ein hohes Gut.
Die Welt wäre so viel einfacher, wenn es mehr Nächstenliebe gäbe, weniger Egoismus und Narzissmus. Weniger Größenwahn, Krieg und Leid.
"Pablo, was du da verlangst, ist nicht fair."
"Ich habe von Anfang an dasselbe verlangt. Schon in der Werft habe ich dir gesagt, was ich erwarte. Und ich habe nur noch ein halbes Jahr, um eine geeignete Frau zu finden."
"Das ist ausreichend Zeit, um eine andere Frau zu finden. Du hast selbst gesagt, dein Vater wird mich nicht akzeptieren."
"Er wird nicht ewig leben. Rubén wartet mit seiner Hochzeit auch."
Ich lehne den Kopf an die Wand und schließe die Augen. Mein Bruder ist aus dem Rennen. Er ist in Sicherheit. Und Pablo sagt mir ganz eindeutig, dass nur ich ihn zu einem besseren Menschen machen kann. Aber macht es mich nicht automatisch zu einem schlechteren Menschen?
"Komm in Bett, Clara. Es ist spät."
"Ich schlafe lieber vorne."
"Du wirst dich nur erkälten. Es ist kalt in einem Flugzeug und hier wird nachts nicht geheizt."
"Und dein Plan, mich zu schwängern?"
"Erübrigt sich, wenn wir erst einmal verheiratet sind. Ich habe es nicht eilig, Clara."
"Das wirkte neulich noch ganz anders."
Pablo hebt eine Hand wie zum Schwur. "Ich verspreche es dir, Clara. Ich werde in diese Richtung nichts unternehmen. Komm jetzt. Im Gegensatz zu dir schaffe ich keine 30 Stunden und mehr."
Eine Weile bleibe ich stehen, wo ich bin. Pablo hat mittlerweile längst wieder die Augen geschlossen. Und auch, wenn es verrückt klingt, aber bis zu einem gewissen Punkt glaube ich ihm. Er würde mich nicht vergewaltigen. Also gehe ich zur anderen Seite vom Bett und ziehe mich um.
Das Bett ist angenehm warm und ich mache es mir bequem. Aber meine Gedanken kreisen um das Gespräch mit Pablo. Kann ich aus ihm einen besseren Menschen machen? Will du das überhaupt? Was wäre, wenn er Noah dazu nutzt, um mich zu einer Heirat zu zwingen? Würde ich nachgeben? Und was ist mit all den anderen Menschen? Könnte ich durch mein Opfer wirklich verhindern, dass Pablo andere Leute ermordet?
Kann ich mich wirklich opfern?
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Schuld und schuldig
ActionClara ist Allgemeinchirurgin am Boston Medical Center und liebt ihren Job. Ihr Leben wäre fast perfekt, wäre da nicht ihr spielsüchtiger Bruder, der ein Händchen für Probleme hat. Um ihm zu helfen, würde Clara alles tun. - Wirklich alles? Was, wenn...