Kapitel 20 - Papa... Mama...

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Fast ein Viertel der Flasche trinke ich leer, bis ich endlich die Wirkung spüre und mein Kopf schwer wird. Ich stelle die Flasche zurück in den Schrank und schleppe mich die Treppe hoch.

Er will, dass ich eine Woche bei ihm bin... Eine Woche. Und egal was danach passiert, es wird nichts mehr so sein, wie vorher. Pablo wird Noah in Ruhe lassen. Das war es dann aber auch schon...

Die Probleme mit Reyes, Einar und Johanson erscheinen mir plötzlich total billig und witzlos. Was wissen die denn schon von echten Problemen?

Schwerfällig lasse ich mich auf mein Bett fallen, stelle den Wecker und ziehe bloß noch die Schuhe aus. Der Alkohol hat gnädigerweise wieder seine volle Wirkung gebracht und ich werde schlagartig müde.

...

Am nächsten Tag bleibt der Kater zum Glück aus. Trotzdem nehme ich ein üppiges Frühstück zu mir. Und danach mache ich, was schon lange überfällig ist.

Ich fahre zum Friedhof, kaufe einen Strauß Blumen und gehe zu dem Grab meines Vaters. Behutsam lege ich die Blumen nieder und nehme den alten, vertrockneten Strauß bei Seite.

Es ist völlig egal, das es nun schon so lange her ist. Jedes Mal tut es aufs neue weh. Und jedes Mal erlebe ich diesen Abend erneut.

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Ich hörte erst die eiligen Schritte und erst dann die kurzen Anweisungen.

Schwerer Autounfall, zwei Personen wurden eingeliefert. Johanson hatte damals Dienst und ich als Assistenzarzt. Mein erstes Jahr... Noch voller Optimismus.

Am OP Tisch hatte ich zuerst nur Augen für die Monitore. Der Bauchraum war schnell aufgeschnitten. Knochenbrüche, Quetschungen, innere Blutungen. Die Organe waren stark in Mitleidenschaft gezogen.

Vier Stunden war ich im OP. Mein Patient war mehrmals an der Schwelle zum Tod. Immer wieder habe ich Blutungen gestoppt, eine Niere entfernt. Die Bluttransfusionen wurden zwei Mal erneuert.

Dann kam der erste Herzstillstand und ich bin vom Tisch weggetreten, als sein Herz mit Elektroschocks wieder angeregt wurde. Und dabei habe ich den Fehler gemacht, auf das Gesicht des Patienten zu sehen.

Dort, mit offenem Brustkorb und voller Blut lag mein Vater und kämpfte um sein Leben. Und das bedeutete, die zweite Person, die mit ihm eingeliefert wurde, war meine Mutter.

Als das Herz meines Vaters wieder schlug, habe ich weiter gemacht. Aber mir standen Tränen in den Augen. Meine Sicht war getrübt. Mein Verstand war wie benebelt.

Erneut setzte der Herzschlag aus. Aber diesmal bin ich nicht vom Tisch weggegangen. Das medizinische Personal wollte mich vom Tisch wegdrängen. Aber ich habe angefangen zu weinen. Mitten im OP. Ich habe darum gebeten, meinen Vater nicht wieder zurückzuholen.

Und dann war es so unendlich still geworden im OP. Die Geräte wurden abgestellt. Danach habe ich den Leichnam meines Vaters zugenäht. Ewig lange habe ich da gestanden und in sein friedliches Gesicht gesehen.
Bis es Zeit war, ihn gehen zu lassen.

Er wurde direkt in den Keller gebracht. Runter zu den anderen Leichen.

Nachdem ich mich wieder aus der OP Kluft geschält hatte, bin ich direkt los und habe nach dem zweiten Opfer des Verkehrsunfalls gefragt. Sie sei auf der Intensiv, hieß es. Im künstlichen Koma. Johanson hatte sie auch wieder beleben müssen. Mehrmals.

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Ich atme tief durch und wische die Tränen weg, die mir völlig unkontrolliert über die Wangen laufen.

Schuld und schuldigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt