Es ist mittlerweile vier Uhr nachts und die Patienten reißen einfach nicht ab. Vorhin war Mr Ferral wieder da, der alte Hypochonder. Das letzte Mal war er der Meinung, er hätte einen Schlaganfall. Und heute war er felsenfest davon überzeugt, einen Gehirntumor zu haben. Dabei ist dieser Mann kerngesund.
Zwei Stunden hat er die halbe Notaufnahme beschäftigt. Das Schlimme an ihm ist, dass er selber mal Medizin studierte. Aber je mehr er über den menschlichen Körper lernte, über Symptome, Anamnese und Behandlungsmöglichkeiten, je mehr glaubte er, all diese Beschwerden bei sich zu spüren.
Er verbringt mehr Zeit im Krankenhaus als ich. Und auch heute besteht er wieder darauf, auf die Station zu kommen. Dabei wurde sein Gehirn genau beleuchtet. Das einzige, was ich finden konnte, war mangelnde Vernunft. Dieser Mann ist so anstrengend. Man könnte glatt meinen, er isst gerne den Fraß, den die Patienten kriegen.
Wenn bald wieder die neuen Assistenzärzte kommen, freue ich mich jetzt schon darauf, sie mal auf Mr Ferral zu hetzen. Falsch machen kann man bei dem eh nichts. Und da Mr Ferral die Symptome perfekt nachspielen kann, ist es ideal für die Neulinge. Ich müsste bloß Popcorn in den Bereitschaftsraum schmuggeln.
Ansonsten hatte ich heute teilweise echt witzige Fälle. Wie zum Beispiel den jungen Mann mit den Prellungen, weil er es für eine lustige Idee hielt, sich vor einen Tennisballwerfer zu stellen und unter Alkoholeinfluss den Bällen in Matrix-Moves auszuweichen. Und was soll man dazu sagen... Es hat natürlich nicht funktioniert. Aber von dessen Kumpel lasse ich mir das Video zeigen, während der Mann mit den blauen Flecken beim Röntgen ist.
Großartig! Hoffentlich landet das später auf TikTok oder YouTube. Auf was für Ideen manche Leute nur kommen. Erinnert mich an den Mann im Batman-Kostüm, der vor ein paar Wochen da war. Er hatte einen Drogendealer in die Schranken weisen wollen. Das Resultat war, dass er drei Messerstiche hatte und ich Stunden im OP war.
Und dann war kürzlich von Batman eine Anklage reingeflattert, wegen mutwilliger Zerstörung seines Eigentums. Weil wir seinen Anzug aufgeschnitten haben. Den Drogendealer wollte er auch anzeigen. Aber den hatte er der Polizei nicht mal beschreiben können.
„Also", reißt mich Mary aus den Gedanken. „Zurück zu deinem Bruder. Hast du ihm endlich vorgeschlagen, seine Spielsucht behandeln zu lassen?"
„Mehrmals", seufze ich schwer. „Aber er glaubt, nur weil er einer Akademikerfamilie entstammt, sei er frei von irgendwelchen Suchtproblemen. Das würde ja nur die Unterschicht betreffen."
Mary schüttelt bedauernd den Kopf. „Er ist so ein netter Kerl. Aber den Bezug zu Geld hat er komplett verloren. Er weiß ja nicht mal, wie viel 10 Dollar wert sind."
Ich muss wieder an die Uhrensammlung meines Vaters denken. Und an all die anderen Dinge, die ich für Noah schon verkauft habe. Geld hat für ihn tatsächlich keinen Wert mehr. Ob eine Null, zwei, oder drei... Er hat in der Hinsicht völlig die Realität aus den Augen verloren. Am Anfang waren es noch kleine Summen. Aber als er das Geld vom Verkauf von Papas Auto erhielt, saß er oft am Tisch für die hohen Einsätze. Die Villa ist mittlerweile zwei Millionen Dollar wert. Aber es ist mein Haus. Unser Vater hat es mir vererbt. Ich bin dort mit Noah groß geworden. Nach der Schule habe ich in der Praxis unseres Vaters ausgeholfen. Die Villa kann ich nicht verkaufen. Da hängt mein Herz dran.
Und dann fange ich plötzlich mitten im Flur an zu weinen. Scheiße! Schnell gehe ich in ein freies Behandlungszimmer und Mary bleibt an der Tür stehen, damit keiner hereinkommt.
„Clara, was ist los?", fragt Mary besorgt.
„Noah hat wieder Schulden gemacht. Diesmal waren es 10.000 Dollar! Mary, es wird immer mehr."
„Oh nein, Liebes. Das ist schrecklich. Er muss sich helfen lassen. Das kann so nicht mehr weiter gehen."
Mary und Noah waren vor zwei Jahren noch ein Paar. Aber seine Sucht hat selbst Mary vergrault. Wobei es weniger die Sucht, als das verlorene Vertrauen war. Aus purer Verzweiflung hatte Noah Mary bestohlen und das Geld genommen, das sie für die Renovierung ihrer Küche bei Seite legte. Natürlich zahlte ich auch dieses Geld zurück.
Ich atme ein paar Mal tief durch und schiebe meine Probleme bei Seite. Bald habe ich die Nachtschicht hinter mich gebracht und morgen... Naja, heute den ganzen Tag frei. „Na komm. Eine halbe Stunde noch. Gehen wir wieder an die Arbeit."
Und natürlich kommt kurz vor Schluss noch ein Notfall rein. Ein junger Mann mit seiner Freundin. Starke Bauchschmerzen und Übelkeit. Ich lasse Mary die Bauchdecke abtasten. Ihr Blick spricht Bände. Er bekommt einen Zugang und ihm wird Blut abgenommen. Ein kurzer Ultraschall zeigt den Entzündungsherd. Da brauchen wir gar nicht auf die Laborergebnisse zu warten.
Wichtig ist jetzt nur, ob der Blinddarm schon durchgebrochen ist, oder nicht. Das hängt davon ab, ob er sofort unter das Messer kommt oder zuerst die Entzündung mit Antibiotika behandelt werden muss.
„Durchbruch!", keucht Mary.
„Dann ab unters Messer mit ihm. Ruf den Anästhesisten und lass den OP vorbereiten.", weise ich sie ruhig an. Schnelligkeit ist wichtig, aber wir dürfen dabei nicht in Hektik verfallen.
Die Freundin des Patienten ist gar nicht begeistert davon. Warum soll er hierbleiben? Er ist mit seinem Auto hergefahren. Sie hat aber keinen Führerschein. Wie soll sie denn jetzt nach Hause kommen? Kann er sie nicht eben wieder nach Hause fahren und er ruft einen Krankenwagen? Geld für ein Taxi habe sie nicht dabei. Und sie würde hier jetzt auch nicht warten, bis er mit der OP fertig sei. Das würde ja Stunden dauern. Dabei dauert der reine Eingriff vielleicht eine halbe Stunde. Aber er wird sich nach der OP erholen müssen.
Ich befasse mich nicht weiter mit ihr. Sie hätte ja nicht mitfahren müssen. Solche Probleme will ich mal haben... Man kann sich das Leben auch künstlich schwer machen.
Zwei Stunden später verlasse ich erst das Krankenhaus, völlig übermüdet und abgeschlagen. Ich steige in mein Auto und fahre ins Fitnessstudio. Nach so langen Schichten brauche ich einfach etwas mehr Bewegung. Sonst komme ich nur schlecht runter.
Und während ich mich auf dem Laufband quäle, kann ich am besten abschalten. Danach noch ein paar Workouts an verschiedenen Geräten, um Bauch, Oberschenkel und Hintern in Form zu halten. Mit meinen 34 Jahren werde ich immer noch fünf bis zehn Jahre jünger geschätzt.
Anschließend in die Sauna und danach eine heiße Dusche. Auf der Heimfahrt halte ich noch bei einem indischen Restaurant.
Frühstück, Mittagessen... Ist doch egal. Und dann fällt mir ein, dass ich ja noch einen Patienten bei mir zu Hause habe. War überhaupt etwas zu essen im Kühlschrank? Zur Sicherheit hole ich ein Gericht mehr. Falls er meine Auswahl nicht mag. Und wenn doch, dann hat er heute Abend noch etwas. Vielleicht sollte ich später einkaufen gehen. Aber erst nachschauen, was noch da ist.
Ich stelle das Auto vor der Garage ab und gehe in die alte Praxis meines Vaters. Ich könnte ein paar Möbel verkaufen. Die Theke der Anmeldung war eine Spezialanfertigung und sollte viel Geld einbringen.
In einem Behandlungszimmer hole ich frisches Verbandsmaterial. Zurück zum Auto und die Tüte mit dem Essen noch mitnehmen. Ich schließe die Tür auf, gehe zur Küche durch und stelle die Tüte auf den Tisch. Dann gehe ich in das Wohnzimmer. Die Couch ist leer. Und auch der Rollstuhl steht nicht mehr im Wohnzimmer.
Ist er jetzt weg? Er sagte doch, er wollte untertauchen. Ich gehe zum Bad und klopfe gegen die Tür. Keine Antwort. Vorsichtig öffne ich die Tür. Nicht, dass er duschen war und unter der Dusche bewusstlos wurde. Aber das Bad ist leer. „Vincent?", rufe ich in den Flur hinein.
Ich gehe in das alte Schlafzimmer meiner Eltern und sehe mich nur ganz kurz um. Den Blick zum Kleiderschrank spare ich aus. Aber auch hier ist er nicht. Am Pool ebenfalls nicht. So langsam werde ich ein wenig nervös. Es scheint nicht so, als wenn im Haus etwas fehlt. Außer natürlich Vincent. Das sollte doch eigentlich gut sein, oder? Besser, er ist bei einem Freund untergetaucht als bei mir.
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Schuld und schuldig
ActionClara ist Allgemeinchirurgin am Boston Medical Center und liebt ihren Job. Ihr Leben wäre fast perfekt, wäre da nicht ihr spielsüchtiger Bruder, der ein Händchen für Probleme hat. Um ihm zu helfen, würde Clara alles tun. - Wirklich alles? Was, wenn...