4 | Ruhe

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Starr schaue ich ihm entgegen. Lügen ist mit das Schlimmste. Wenn sie mich nicht hier haben wollen, dann sollen sie es mir sagen. Ganz einfach. Wäre scheiße, ja! Aber keine Lüge. Warum begreifen sie es nicht?

Von Axel kommt nach wie vor kein Wort. Es scheint viel eher, dass sich dieser binnen der letzten Sekunden selbst zugekleistert hat – so dünn die Linie seiner Lippen nur noch sichtbar ist. Eventuell grübelt er. Mit jeder weiteren verstrichenen Sekunde – in der er innerlich zu ruhen scheint – brodelt es nur noch mehr in mir.

Mir reicht es. Ich nehme meinen Rucksack, den ich eben auf den Boden gedonnert habe und verschwinde. Raus zur Tür des Büros in den Gang der WG hinein. Hinter mir höre ich keine Schritte. Axel kommt nicht einmal hinterher. Vor mir im Flur sehe ich, wie sich zwei Zimmertüren öffnen. Melli und Rachel gucken mir entgegen. Ich halte inne. Fuck! Wecken wollte ich natürlich niemanden. Nichts kriege ich auf die Reihe. Schnell gehe ich auf Rachel zu und flüstere ihr ein »Danke« zu.

»Es gilt Nachtruhe. Alle in ihre Zimmer.« Axel. Seine bedacht ausgesprochene Worte hallen im Flur nach. Zunächst gleiten sie von hinten durch meinen Rücken hindurch, gelangen bis zum Ende des Gangs, um von dort wieder den Rücktritt wie ein Echo zu ihm anzugehen, wobei sie mich von vorne durchdringen. Als die Vibration seiner Stimme abebbt, drehe ich mich um. Da ich Axels Blick zwar einfangen, aber nicht deuten kann, komme ich der Aufforderung genauso nach wie auch Melli und Rachel. In dem Wissen, dass es die letzte Nacht für mich ist.

Von wegen Gemeinsam im Leben! Gemeinsam. Gemeinsam? Gemeinsam ... Wäre schön. Doch das bleibt mir wohl erspart. Wer braucht schon GIL?!

Ich schmeiße mich aufs Bett und haue direkt auf das Kissen ein. Leider kann ich nicht verhindern, dass neben Wut noch anderes hochkommt und sich die heuchlerischen Tränen aus ihren Löchern befreien. Ich halte das nicht aus! Das Kissen landet kurz darauf auf dem Boden.

Zusammenreißen!, ermahne ich mich. Strauchelnd folge ich ihm aus dem Bett. Wieder überkommt mich der Drang. Wegzumüssen. Sofort. Daher schnappe ich meinen Seesack und pfeffere da alles von mir rein – was eh nicht allzu viel ist.

Das nächste halbe Jahr – bis ich achtzehn bin – werde ich schon rumkriegen. Dagegen noch mal einen Wechsel – in eine andere Einrichtung oder womöglich sogar in eine andere Stadt? Nein, auf keinen Fall. Nicht mit mir. Das halbe Jahr bekomme ich schon irgendwie hin. Nur erst einmal muss ich es hier raus schaffen. Ich zücke mein Handy und tippe los.

Grinsend verfolge ich kurz danach, wie Rachel an die Tür vom Mitarbeitenden-Büro klopft und über Bauchweh sowie heftige Kopfschmerzen klagt. Danke dir!

Zwei Fußpaare trippeln über den Laminatboden im Flur. Ich horche genau hin. Axel begleitet sie zunächst zurück ins Zimmer, begibt sich dann in die Küche, um ihr einen Tee und eine Wärmflasche zu machen und wird ihr das dann alles bringen. Ich muss genau diesen Moment abpassen. Sobald er ihr das serviert, wird er sie fragen, ob er noch etwas für sie tun kann. Das ist meine Chance – gleichzeitig bahnt sich ein schlechtes Gewissen an.

Axel ist zwar von der Erscheinung wie ein Bär, doch von seiner Natur her eher wie ein Teddy.

Und das auszunutzen, während einer der Guten sich Sorgen macht ... Es fühlt sich mies an. Doch das gilt es zu verbannen. Das darf ich nicht an mich heranlassen.

Fokus behalten! Mich wollen sie ja dennoch nicht. Es heißt wieder mal: Raus! Du bist unerwünscht.

Der Moment ist gekommen. Schleichend schleppe ich mich und mein Zeugs nach vorne zur Tür, blicke nicht zurück und raus bin ich. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend laufe ich die Treppen runter, strecke meine Hand schon frühzeitig aus, um die Klinke zu erreichen und ziehe sie schwungvoll auf. Ich laufe draußen ebenso weiter. Über das Kopfsteinpflaster – ohne zurückzuschauen – bis zur Straße und auch dann immer weiter.

Während ich durch die Gassen laufe, drängt sich zum wiederholten Male die gleiche Frage des heutigen Abends auf. Wohin soll ich nun? Die einzige Person, die ich hier dachte wirklich zu kennen, ist Dana.

Ich bleibe stehen, schnaufe aus. Da gehe ich sicherlich nicht hin. Das waren genug Abfuhren für einen Tag. Irgendwann ist das Maß auch mal voll. Im leichteren Gang setze ich meinen Weg nun fort. Da ich gerade absolut keine Raststelle für mich weiß, schlendere ich weiter. Quer durch die Stadt, die trotz des Düsteren eine Ruhe ausstrahlt. Abseits der Citymeile ist kein Gegröle oder sonstiger nerviger Shit zu hören. Das ist ehrlich auch mal schön.

Meine Beine tragen mich immer weiter. Ganz automatisch lenke ich hier- oder dorthin ein. Ich folge keinem besonderen Plan; lasse mich eher aus dem Inneren leiten. Selten habe ich das vorher gemacht.

Und dann an einer für mich vollkommen unauffälligen Stelle spüre ich etwas. Einen kleinen Hauch von ... Gutem. Es wird etwas freier in mir. Möwen fliegen kreischend über mir hinweg, wodurch ich unwillkürlich hochschaue. Meinen Kopf recke ich lächelnd dem Himmel entgegen. Der sich aus seiner dunklen Hülle zu lösen scheint.

Dem kleinen Pfad, auf dem ich mich befinde, folge ich weiter. Er führt mich zum Hafen, an dem sich eine wunderschöne Aussicht vor mir ausbreitet. Das Wasser, in dem sich der Nachthimmel spiegelt.

Die besänftigende Stille ist hier beinahe zu greifen. Staunend schaue ich mich um. Ich fühle keinen Widerstand. Nein, eher das Gegenteil. Die Stufen zur Promenade steige ich hinab. Dort lasse ich mich auf einem Plateau nieder und schließe meine Augen.

Ich genieße es. Es ist, glaube ich, das erste Mal – oder es ist schon sehr lange her –, dass ich zulasse, dass etwas nach mir haschen darf.

Egal von welchem FleckWo Geschichten leben. Entdecke jetzt