Das nehme ich hiermit zurück. Es ist nicht mehr nur ›eher ganz übel‹. Es ist der vollkommene Untergang für mich. Zum kack irgendetwas. Ich hätte ihn nie danach fragen dürfen. Es hätte mir doch klar sein müssen, dass, wenn ich ihn frage, er es mir gleichtun wird. Habe ich ihn nicht dadurch mehr oder weniger dazu eingeladen?
»Mo, was ist deine Geschichte?«, wiederholt er seine Frage, als hätte ich ihn nicht schon beim ersten Mal gehört.
Doch das habe ich. Ja, wenn ich lieb sein will, dann gestehe ich, dass er wirklich sehr leise und sanft gesprochen hat, aber ich habe ihn durchaus verstanden und zwar jedes einzelne Wort. Glasklar. Und so wie Glas bin ich kurz davor zu zerspringen. In viele winzige kleine Teile.
Die Augen halte ich weiterhin stur nach vorne gerichtet, damit ich ihn bloß nicht anblicke. Damit ich nicht doch noch aufbrausend reagiere. Denn das will ich nicht.
Jedoch spüre ich seinen Blick wie ein heißes – sind die überhaupt heiß? – Laserschwert in mich eindringen. Wenn ich könnte, würde ich sofort aufspringen und abhauen.
Mein Verstand wäre sofort dabei, aber mein Körper ... Der ist nicht mit von Partie. Mein Körper verkrampft sich wieder einmal. Ich könnte vielleicht in einem Theater einen Stein spielen. Darin wäre ich eventuell gut. Nur dass meine Haut glitschiger ist. Von jetzt auf gleich ist mir der Schweiß ausgebrochen. Nicht nur, weil ich nicht darüber sprechen will. Sondern auch, weil ich ihn nicht so arg vor den Kopf stoßen mag; weil er mir schon so viel von sich erzählt hat. Die wievielte Schicht Schweiß das nun ist? Da habe ich keine Ahnung.
Was mache ich denn jetzt?
Ich bringe absolut gar keine Antwort zustande. Nicht mal eine ausweichende. Nichts. Null. Nada.
Was machst du hier?
Was bedeutet break'n'hut?
Hilft dir das Tanzen?
Was ist deine Geschichte?All die Fragen der Nacht stürmen in mich hinein wie bei einer Tsunamiwelle, die sich langsam irgendwo weit draußen außer Sichtweite noch im Verborgenen auf dem Ozean immer mehr aufbaut. Leise, aber kraftvoll. Mit verheerenden Auswirkungen und mächtigenden Einfluss. Und dann zack ... hat sie es geschafft. Sie kommt brausend auf einen zu. Gewaltig und hoch, dass wenn sie überschwappt, alles überflutet und unter sich taucht, was sie nur in ihre Fänge bekommen kann. Und sobald sie ihren Rückzug antritt, reißt sie alles mit sich. Nichts bleibt verschont. Es gibt keine Chance. Du schaffst es nicht, davon zu kommen. Dafür ist sie zu machtvoll, schnell, einflussreich.
Ich bin mittendrin und habe noch diese armselige Hoffnung, ihr entrinnen zu können. Laufend, strampelnd, mich irgendwie fortbewegend gebe ich alles, doch ich spüre schon die Last. Bald ist es vorbei. Gleich verlassen mich die letzten Kräfte.
Ich sehe Ausschnitte aus meinem Leben. Ist es nun wirklich das Ende? Es sind unzählige verschiedene Bilder und doch immer dasselbe. Außer, dass ich älter werde.
Mo als Kind, Mo als Teen, Mo als Jugendliche, Mo heute. Mo immer mit diesen hellbraunen schulterlangen Haaren, die so schrecklich dünn sind, dass du die Faust komplett ohne Mühe zudrücken kannst, wenn du den Zopf umgreifst.
Mo immer an einem anderen Ort, weil sie nie lange irgendwo geduldet wird. Mal hier, mal dort. Doch immer in einem Heim oder einer betreuten Jugendhilfeeinrichtung. Ohne richtigen Anschluss. Weil Mo ... Weil ich bin, was ich bin ... Nämlich–
»Mo?« Eine Stimme, sie klingt sanft und gleichsam weit entfernt. Ist es die von Baggy? Bin ich schon so tief unter dem Wasser, ohne dass ich es gemerkt habe? »Mo?!« Es ist Baggy – Gabe, meine ich. Vom break'n'hut.
Break'n'hut. Bruchbude. Gebrochen. Haus. Pause. Hütte. Bruch. Ort. Unzählige Wörter fluten meinen Verstand. Ich bin eine einzige Bruchbude. Gebrochen.
Wie von weiter Ferne höre ich nun Vögel zwitschern. Es klingt total fehl am Platz. Doch es animiert mich. Ich versuche, mich zu bewegen, bemerke, wie steif meine Gliedmaßen sind, kann mich nur mühsam und schwerfällig, aber immerhin an der Wand hochziehen ...
Ich durchdringe endlich das Rauschen, was sich auf meine Ohren gelegt hat. Es nimmt ab, es ist am Aufklaren. Flucht, das ist der einzige Gedanke. Es leuchtet knallrot vor meinen Augen auf. Ich muss hier weg.
»Gabe, du bist ja heute früh hier«, ertönt eine fröhliche Stimme. Daraufhin folgt ein Nuscheln von Gabe, was ich nicht verstehe.
»Und Mo!« Ich werde in eine Umarmung gezogen, wobei meine Arme schlaff herunterhängen und mein Gesicht zusammengeknautscht wird. »Ich freue mich echt total, dass du auch hier bist«, werde ich herzlich begrüßt. Es ist Balou.
»Was ist hier los?«, stellt sie dann die Frage, weil sie wohl – eventuell durch meine Teilnahmslosigkeit – gemerkt hat, dass die Stimmung nicht ihrer entspricht. »Ich warte.«
Doch zu einer Antwort bin ich noch nicht fähig. Meine Konzentration gilt dem Banner – wird nur durch das Geklopfe von ihren Fingern auf dem Holzrahmen der Tür unterbrochen – in meinem Kopf: Flucht. Jetzt. Sofort.
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Egal von welchem Fleck
Fiksi Remaja◦𝗬𝗼𝘂𝗻𝗴 𝗔𝗱𝘂𝗹𝘁◦ Unerwünscht. Einsam. Abgewiesen. Das ist die 17-jährige Mo gewohnt. ›Raus‹ ist eins der geläufigsten Worte in ihrem unsteten Leben. Stück für Stück bröckelt es - in ihr, um sie herum. Alles. Wechsel und Wandel begleiten sie...