Bei mir bleiben. Ganz egal, was kommen wird. Ich forme meine Hände zu Fäusten und bewege sie ganz leicht in der Luft, drücke mir mehr oder weniger die Daumen oder die Fäuste; mache mir Mut, gebe der Hoffnung ihre Chance.
Gestern habe ich mit der Truppe – mit meinen Freunden – noch an meinen Wünschen gebastelt beziehungsweise haben sie mich viel eher dazu ermutigt, diese zu verfassen. Ich schlug meinen Notizblock auf, habe nach hinten geblättert, zwei freie Seiten übersprungen und dann losgelegt. Sie stehen dort auf neuen Seiten niedergeschrieben. Doch ich habe sie ebenso in meinem Kopf ganz klar abgespeichert und werde mich trauen, sie laut zu äußern. Das habe ich mir fest vorgenommen.
Als ich damit fertig war, haben wir noch einen wundervollen Abend verbracht, in dem wir einfach draußen auf der Wiese gechillt haben. Ich war eher ruhig und habe die meiste Zeit ihnen gelauscht, während sie mir von sich erzählt haben. Was sie machen wollen – im nächsten Schuljahr, nach der Schule oder auch generell, welche Wünsche und Ziele sie so verfolgen.
Gabes erstes Ziel ist die Ableistung der Sozialstunden. Was er nach seinem Schulabschluss genau damit anfangen will, weiß er noch nicht. Daher denkt er über ein freiwilliges soziales Jahr nach. Das könnte ich mir auch vorstellen, denn ich habe auch überhaupt keine Ahnung, wohin es gehen kann. Mein einziges momentanes Ziel ist, ein Zuhause zu finden oder vielmehr ein Dach über dem Kopf – mit meinen Wünschen.
Dilara ist da klarer aufgestellt. Sie hat unsere Shirts hergestellt – was mich zum Staunen gebracht hat – in der Firma ihrer Mutter und will ihr schon von klein auf nacheifern. Dieser Wunsch hat sich scheinbar nie verändert.
Selbstverständlich wird es schon auf ihn zukommen. Deswegen steckt er sich solche Ziele nicht. Das ist Flynns Ansicht. Er will reisen und hat bereits einen Teil seiner Weltreise geplant. Er hat Bene dabei enthusiastisch angeschaut, der daraufhin nur meinte, dass er es immer noch nicht wüsste.
Fragend hob ich eine Augenbraue, wodurch ich erfuhr, dass Flynn seit geraumer Zeit versucht, Bene zu überreden, ihn zu begleiten. Bene wird also eventuell – nur zum Teil oder ganz – mit Flynn auf Reisen gehen und ansonsten würde er gerne studieren. Sozialwissenschaften oder etwas in diese Richtung. Er möchte sich noch mehr informieren.
Balou möchte ihren Aushilfsjob zum Beruf machen. Sie wird sich sowohl um einen Studiumsplatz als auch um eine Ausbildung bewerben. Die Art ist ihr egal. Sie schaut, wie es kommt und was ihr Bauchgefühl dann sagt. Wir haben den Abend gemeinsam sehr genossen. Zum Schluss hat mich Balou erneut eingeladen, mit zu sich zu kommen.
Genüsslich strecke ich mich noch mal und stehe dann aus dem gleichen Bett wie gestern auf, weil ich das Angebot angenommen habe. Es ist noch sehr früh. Doch ich habe mehrere Entscheidungen in der Nacht getroffen. Schluss mit Lügen, Halbwahrheiten und diesem ganzen Stunk. Und danach gehe ich zum Kinder- und Jugendnotdienst. Heute noch. Balou wird mir bestimmt im Gespräch mit ihren Eltern zur Seite stehen, aber auch sie wird einiges zum ersten Mal hören.
Nachdem wir uns alle – auch die Mutter ist dabei – gemütlich an den Frühstückstisch gesetzt haben, eröffne ich ihnen meine Geschichte. Balou nimmt meine Hand und drückt sie.
»Versteh es bitte nicht falsch«, spricht Mark zu mir und in meinem Kopf beginnen sofort die Horrorszenarien. Ich mache mich bereit, direkt aufbrechen zu müssen. »Wir haben uns so etwas gedacht. Natürlich nicht in diesem Ausmaß, aber mit der aktuellen Situation.«
Was? Das war es, was sie sagen wollten? Ich dachte, ich höre das obligatorische Raus! Woran nichts falsch zu verstehen wäre, meiner Meinung nach. Aber ... So kommt es nicht. Und dennoch kann ich es nicht einordnen. Fragend schaue ich sie an.
»Es ist uns egal. So meinen wir das nicht«, spricht Mark weiter und löst dabei etwas bei mir aus. Tränen kullern meine Wangen herunter. Ich habe nicht einmal die Chance, sie aufzuhalten. »Du und Balou. Spürt ihr das denn nicht?«, fragt er.
»Ich denke, Balou schon«, erwidert Anne und schaut ihre Tochter warm an.
»Was ... ähm ...?«, stammle ich halb vor mich hin.
»Ich bin adoptiert«, erklärt mir Balou. »Aber für mich seid ihr meine Eltern. Da gibt es niemand anderen«, sagt sie eilig an ihre Eltern gewandt.
»Das wissen wir«, erwidert Anne.
»Balou hat unbewusst oder bewusst deine Lage erkannt und dir helfen wollen und sie wusste, dass wir dich niemals vor die Tür setzen würden«, hakt sich Mark erneut ein, als er meinen Blick einfängt, der zwischen ihnen allen hin und her geht.
Perplex. Überwältigt. Verwirrt. Gerührt. Und noch einiges mehr bin ich.
»Also soll es heute so weit sein?«, fragt mich Balou.
»Ja«, erwidere ich bestimmt.
»Soll ich dich begleiten?«, bietet sie an, aber ich schüttle den Kopf.
»Aber du meldest dich danach?«
»Sobald ich kann. Wirklich. Aber diesen Schritt möchte ich alleine machen.«
Wir lächeln uns an. Sie hat Verständnis. Meine ich zumindest, daraus lesen zu können.
»Dann lasst uns nun essen. Der Kaffee ist bestimmt auch schon kalt«, beschließt Mark und lockert dadurch die Stimmung etwas auf.
Mark und Anne geben mir eine Dose mit Sandwiches und Trinken mit. Nachdem wir uns auf Wiedersehen sagen, gehe ich los. Meinen Seesack lasse ich auch heute bei ihnen. Das haben wir gemeinsam entschieden. Und ich kann jederzeit zu ihnen kommen, wenn etwas ist.
Ganz egal, auf wen ich treffen werde. Ganz egal, was sie dort sagen werden. Ganz egal, was da auf mich zukommen wird. Ganz egal, was und überhaupt. Ich bleibe bei mir und meinen Wünschen. Das nehme ich mir fest vor.
DU LIEST GERADE
Egal von welchem Fleck
Teen Fiction◦𝗬𝗼𝘂𝗻𝗴 𝗔𝗱𝘂𝗹𝘁◦ Unerwünscht. Einsam. Abgewiesen. Das ist die 17-jährige Mo gewohnt. ›Raus‹ ist eins der geläufigsten Worte in ihrem unsteten Leben. Stück für Stück bröckelt es - in ihr, um sie herum. Alles. Wechsel und Wandel begleiten sie...