Sie hat es sich anders überlegt. Das verstehe ich sogar. Vorhin habe ich nicht mal damit gerechnet, als mir das absurde Ausmaß hier komplett bewusst wurde, dass sie dem zustimmen würde. Wieso auch? Warum ausgerechnet für mich?
»Aber iss erst einmal in Ruhe auf«, fügt sie in ihrer warmen, klangvollen Stimme an.
Ich soll was? In Ruhe aufessen ... Wie soll ich das denn jetzt noch bewerkstelligen? Das war ja eben schon eine riesengroße Hürde, aber nun?! Mein Magen hat dieses unsichtbare Schloss angebracht. Es ist dicht. Da wird gar nichts mehr durch die Speiseröhre flutschen. Nichts, null, nada. Sobald etwas damit in Berührung kommt, wird er rebellieren. Der Magen. Nee, das ist doch keine Ruhe.
Ich sehe, wie sie mich ansieht. Wohl eher betrachtet, sie nimmt meine Anspannung wahr. Das merke ich genau. Meine Wirbelsäule ist eine einzige Rutschbahn.
»Nein, Mo«, sie kommt mit ihrer Hand näher, legt sie dann aber doch nicht auf meinen Arm, »alles gut. Nichts Schlimmes.«
Ihre Finger, auf denen mein Blick haftet, schweben weiterhin zwischen uns. Ich sehe bestimmt bemitleidenswert aus. Obwohl ich genau das nicht will. Mitleid ist schrecklich. Er lähmt jeden und alles; ist überhaupt nicht hilfreich. Hingegen wäre etwas ähnliches vom Wort her viel wirkungsvoller. Doch Mitleid infiziert alle Beteiligten nur und lässt sie in einem sicheren Strudel absausen.
Unsicher. Das bin ich. Wie ihre Hand. Sie ist nur ein Spiegel. Von mir.
Den Teller schiebe ich von mir weg. »Wir können jetzt«, ich halte inne, sowohl in der Bewegung als auch beim Sprechen, wobei ich meine leicht zitternde Hand am Rand des Tellers beobachte, »vielmehr kannst du mir jetzt das sagen, was du mir sagen musst.«
»Sicher, dass du nicht erst noch–«
»Ganz sicher«, antworte ich ihr, so bestimmt ich kann.
»Tut mir leid, das wollte ich nicht. Dir dein Essen verderben.«
Das glaube ich ihr sogar. Balou ist ehrlich. Das muss ich mir abspeichern. Auch tief drinnen bei mir. Wie komme ich da nur hin?
»Du kannst heute bei mir schlafen«, verkündet sie wie nebenbei. Mein Kopf ruckt vom Teller zu ihr. Habe ich mich gerade verhört?
»Und dann schauen wir mal weiter, wie wir das machen. Du musst wissen ... Also ich wohne bei meinen Eltern und sie sind eigentlich ganz cool, aber manchmal eben auch nervig. Wahrscheinlich ist das typisch. Aber, na ja. So viel Platz haben wir nicht. Und wir bekommen öfter mal Besuch. Und wenn der kommt, brauchen wir den gesamten Platz. Big Family und so. Deswegen müssen wir mal schauen. Aber wir bekommen das schon hin. Außerdem brauchst du ja eh nichts mehr für lange, richtig?« Vielsagend blickt sie mich an, vor allem, als sie letzteres ausspricht.
»Richtig. Nicht mehr lange.« Mein Hirn ... Ich versuche ihm gerade mitzuteilen, dass es sich nicht abzuschalten braucht. Aber so ganz gelingt es mir nicht. »Du machst zu viel für mich«, sage ich ihr noch.
»Nein. Das hast du verdient«, ist ihre prompte Antwort. »Und ... ich gebe nur zurück«, fügt sie an. Ihre Hand landet nun doch auf meinem Arm. Ganz sachte streift sie darüber und geht dann aus dem Saal und lässt eine verdatterte Mo zurück. Also mich. Sie gibt nur zurück. Dahinter wird wohl ihre Geschichte stecken. Jeder hat eine Geschichte.
Fassungslos betrachte ich mal wieder den leeren Eingang, durch den sie gerade verschwunden ist. Fassungslos, wie gut sie entweder ihr Päckchen verbergen kann, es schon verarbeitet hat oder wie verblendet ich bin. Aber auch darüber, wie gut sie zu mir durchgedrungen ist. Das muss ich schon zugeben. Bei vielen anderen hätte ich vollkommen abgeblockt.
Als Brokkoli in meinem Mund landet, checke ich erst, dass ich automatisch wieder begonnen habe, zu essen. Nachdem ich fertig bin, gehe ich noch raus, um für mich alleine frische Luft zu tanken. Vielleicht bin ich am richtigen Fleck. Zumindest jetzt gerade. Mit einem Lächeln begebe ich mich wieder rein zu den anderen zum weiter proben.
»Lass uns in einer halben Stunde vor dem Eingang treffen, ja?«, ruft Balou mir nach dem Training über den Saal hinweg zu.
»Okay, Balou.«
Während Balou noch Orgakrams machen muss und dafür sorgt, dass der Laden so aussieht, wie wir ihn betreten haben, einen Sicherheitsrundgang absolviert und danach alles abschließt, begebe ich mich mit Gabe raus.
Als könne man mich keine dreißig Minuten alleine lassen, will er mir Gesellschaft leisten. »Haben deine Eltern denn keine Sorge um dich?«, frage ich jetzt aber endlich mal neugierig nach.
»Oh doch, das würden sie haben und ich den Anschiss meines Lebens bekommen.«
»Aber?«
»Sie sind gerade im Urlaub. Seit dem Ereignis haben sie vor, einmal im Jahr sich Zeit für sich zu nehmen als Paar. Finde ich gut und da ich ja auch schon älter und klüger und reifer bin, ... vertrauen sie mir.« Ich kann gar nicht zählen, wie oft er dabei übertrieben zwinkert.
»Alles klar«, bekomme ich gerade so noch heraus, bevor ich richtig anfangen muss zu lachen. Als ich an ihm vorbeigucke, erhasche ich einen guten Blick auf die Mauer. Jetzt bei Tageslicht kann man sie auch von hier ganz gut sehen.
»Hast du auch hier schon gesprüht?«, will ich daher von ihm wissen.
»Ja, na klar.« Er dreht sich ebenfalls zur Mauer um.
»Was ist von dir?«
»Was glaubst du?« War ja klar ... Ich rolle mit den Augen. Nachdem ich zur Tür geschaut habe und Balou nicht sehe, gehe ich ein paar Schritte auf die Mauer zu.
»Das!«, rufe ich aus und zeige auf ein besonderes Exemplar.
»Im Ernst, das denkst du?«
Ich zucke mit den Schultern, aber natürlich denke ich das nicht; wollte aber gleichzeitig sichergehen, dass er keiner dieser Idioten ist, die nur Penisse und Eier sprühen, als sei es das Machtvollste auf der Welt. Ich suche etwas intensiver nach wirklich besonderen Motiven.
»Dann eben das?«
»Ich wünschte es. Aber nein«, antwortet er beeindruckt gegenüber dem Graffiti beziehungsweise der kreativen Person dahinter. »Vom Stil aber näher dran.«
»Das andere ist auch ein Stil?«
»Ja, ein Scheiß-Stil.«
Wir müssen beide lachen. Danach deute ich wieder zur Mauer. »Gut, dann zeig mir eins.«
Er geht näher heran und es scheint, dass er sorgsam eins auswählen mag. Dann deutet er auf eins. Es ist wundervoll. Wärme und Sicherheit und noch vieles mehr durchfluten mich sofort. Ich spüre, wie ich strahle und das Graffiti, was ich betrachte, versprüht direkt seine Bedeutung, die hinter seiner Symbolik steckt. Zumindest gelingt es bei mir.
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Egal von welchem Fleck
Teen Fiction◦𝗬𝗼𝘂𝗻𝗴 𝗔𝗱𝘂𝗹𝘁◦ Unerwünscht. Einsam. Abgewiesen. Das ist die 17-jährige Mo gewohnt. ›Raus‹ ist eins der geläufigsten Worte in ihrem unsteten Leben. Stück für Stück bröckelt es - in ihr, um sie herum. Alles. Wechsel und Wandel begleiten sie...