»Okay. Freut mich. Ich bin Gabe.«
»Ja, mich auch. Ich bin Mo.«
»Gut, das wir endlich diese Vorstellungsgeschichte hinter uns haben«, fügt er an und wir müssen beide lachen.
»War längst überfällig«, stimme ich ihm, während wir weiter lachen, zu.
Dieses Fragen-Antwort-Spiel meistern wir tatsächlich ganz gut. So verhältnismäßig gut für Baggy und mich. Wir werden entspannter, vor allem ich. Meine Hände liegen lockerer auf meinen Beinen und ich kann ihn öfter ansehen, während wir unsere ›intimsten‹ Details wie Alter und Lieblingsmusik anvertrauen. Manchmal wippen seine Kringellocken lustig hin und her, manchmal wirft er seine Cap von der einen zur anderen Hand, während er sich die nächste Frage überlegt. Teilweise gibt es Fragen, die mir leichte Bauchschmerzen bereiten – beispielsweise Reiseziele –, aus denen ich mich jedoch retten kann. Sei es, weil er einfach zuerst antwortet und mir damit einen anderen Weg ebnet oder eine andere Frage stellt. Er gibt sich Mühe und ich mir auch.
»Dein Lieblingsort hier in dieser Stadt?«, fragt er als nächstes.
Neun Silben – verpackt in sechs Wörtern – stechen auf mich ein. Wie ein Eiszapfen, der auf einen Vulkan trifft. Was wird passieren? Wann wird es geschehen, dass die einzelnen Splitter aus dem scheinbar harmlosen klirrenden Objekt in meinem Inneren abstoßen und mich zerfetzen? In meinem Bauchraum ist einziges Gefecht. Von jetzt auf gleich.
Irgendein Ort könnte mir sicher einfallen, aber das vordergründige Gefühl lässt das überhaupt nicht zu. Scham. Meine Gedanken driften nur in eine Richtung, wohin es nicht gehen sollte. Scham. Einfach nicht beantworten, meinte er. Scham. Das sagt sich so leicht. Die Reaktion meines Körpers ist dennoch da. Wie komme ich da raus?
»Mo, tut mir leid, wenn das eine doofe Frage war.«
Ich kann nicht darauf reagieren. Meine Hände – längst wieder steif – sind überzogen von einem Schweißfilm. Mein Körper spannt sich erneut an. Während ich spüre, wie sich der Schweiß seine Bahnen über meinen gesamten Körper sucht, versuche ich im Hier zu bleiben, nicht dem Fluchtinstinkt nachzugeben. Immerhin bin ich ja an meinem Ort. Vermutlich die Antwort, die er sich dachte oder das break'n'hut. Aber all das bekomme ich nicht heraus. Scham. Wegen der Wahrheit.
»Ich bin noch nicht lange hier ... Keine Ahnung«, zwinge ich mich zu sprechen. Er macht seinen Mund auf. Wahrscheinlich will er etwas sagen, doch ... Nein, jetzt mal nicht. »Pscht«, bestimme ich. »Mein Kopf ist etwas wirr, die Nacht, die letzten Tage, das alles zusammen ist oder war ganz schön viel für mich.« So wie auch diese Aussage – es ist alles viel zu viel für mich. Ich lasse die Luft aus meiner Lunge und bin froh, dass er gerade mal den Mund hält. »Aber so etwa drei Wochen bin ich jetzt hier. Deswegen gehe ich nicht zur Schule. Davor war ich natürlich in der Schule. In vielen. In vielen Städten, Schulen, Wohngruppen. Immer, überall, aber irgendwie auch nirgendwo. Habe nie ausgepackt. Zumindest irgendwann damit aufgehört, weil ich wusste, dass es eh irgendwann weitergeht für mich. Ich gehöre nirgends hin. Anscheinend gibt es keinen Fleck auf dieser Erde ... für mich. Offensichtlich. Ich bin jetzt siebzehn. Bald achtzehn. Immer noch nicht angekommen. Aber hier. Ich wollte es. Ja wirklich. Und dann ... Ja, keine Ahnung, ich habe es wieder vermasselt. Anscheinend kann ich nichts anderes, außer Dinge zu verbocken. Es gibt kein Zuhause, keine Familie, nichts. Da ist nichts, verstehst du?«, prasselt das alles, nachdem ich erst einmal begonnen habe, aus mir heraus.
So langsam sickert es zu mir durch, was ich da gerade getan habe. Shit! Habe ich das gerade echt alles preisgegeben? An seinem Blick wird mir klar: Ja, das habe ich. Er starrt mich an. Verständlich. Was auch sonst?! Ich bin erbärmlich. »Ich bin Mo und habe nichts. Außer das, was du siehst«, ziehe ich das passende Resümee.
Er kann aufhören mit diesem jämmerlichen Spiel und sich auf und davon in sein wundervolles Leben machen. Jetzt ist es raus ... Ich drehe mich mal wieder weg von ihm, weil nicht nur die Worte aus mir herausgebrochen kommen, sondern sich auch diese feuchten Biester auf den Weg machen. Erbärmlich. Ja, das ist ein gutes Wort für mich. Immerzu am Hoffen, um immerzu enttäuscht zu werden.
Doch zu meinem Erstaunen geht er nicht. Im Augenwinkel sehe ich, wie er sich von rechts ein kleines Stück näher heran bahnt, er hält aber Abstand. Das schätze ich wirklich an ihm.
»Du kannst wirklich gehen, du musst nicht–«
Er legt vorsichtig eine Hand auf meine Schulter. »Ich möchte aber gar nicht gehen.«
Da mich die – jegliche nicht in Worte zu fassenden – Gefühle übermannen, bekomme ich – das kenne ich schon – keine vernünftigen Worte mehr heraus und schüttle daher nur mit dem Kopf. Ich verstehe es nicht.
»Darf ich?«, fragt er, und weil er ganz leicht an meiner Schulter drückt, weiß ich – wenn ich mich nicht mal wieder täusche –, was er meint. Ich zucke mit den Schultern.
»Ich bin für dich da. Wenn du das möchtest. Zum Reden oder auch nicht. Schweigen oder nicht. Okay?«
Er rückt noch ein kleines Stück näher, sodass ich einen winzigen Luftzug seiner Kringellocken abbekomme. Er legt seinen Arm von hinten auf Schulterhöhe um mich. Es tut gut, was er sagt und wie vorsichtig er ist. Ganz automatisch lasse ich meinen Kopf an seine Schulter gleiten. Mein Körper bleibt jedoch starr und steif.
Nicht zu viel. Nur ein bisschen Nähe. Seine Hand, die fest, aber nicht doll an meiner linken Schulter liegt, beginnt über meinen oberen Oberarm zu streifen. Genau so, wie es in Ordnung ist.
Neue Tränen bilden sich und folgen den anderen.
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Egal von welchem Fleck
Teen Fiction◦𝗬𝗼𝘂𝗻𝗴 𝗔𝗱𝘂𝗹𝘁◦ Unerwünscht. Einsam. Abgewiesen. Das ist die 17-jährige Mo gewohnt. ›Raus‹ ist eins der geläufigsten Worte in ihrem unsteten Leben. Stück für Stück bröckelt es - in ihr, um sie herum. Alles. Wechsel und Wandel begleiten sie...