28 | Richtung

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Gabe kann das anscheinend gut – schauspielern und seine Stimmungen wie ein Chamäleon seine Farben wechseln –, obwohl ich es irgendwie nicht glauben kann, dass er das gerne macht. Das verwirrt mich.

»Ach schade. Aber dann beim nächsten Mal!«, sagt Dilara zu mir.

»Ja, klar«, antworte ich und lächle ihr zu.

Auch Flynn und Bene verabschieden sich mit den Worten »Na dann, viel Spaß« von mir. Im Augenwinkel versuche ich Gabe auszumachen, doch er scheint wohl schon rausgegangen zu sein.

Balou drückt mich einmal fest. »Wenn was ist, dann kommst du hierher zu mir, okay?« Auf ihre direkte Aussage war ich nicht gefasst. In ihrer Stimme kann ich hören, dass sie es ehrlich meint, was mich rührt, und daher bekomme ich nur ein Nicken zustande. »Und denk bitte auch daran, dass er vielleicht ein Idiot ist, aber immer nur das Beste für einen will. Das kann er leider nur nicht immer so gut zeigen, weil ...«

»Er ein Idiot ist?«

»Ganz genau«, bestätigt sie mich schmunzelnd.

Ich weiß, was sie meint und das mag auch stimmen, aber zwischen Baggy alias Gabe und mir stehen ... Dinge.

Auf jeden Fall ist er ein Idiot, das steht außer Frage. Aber in diesem Fall liegt es ebenfalls an mir. Ich könnte gut und gerne auf dieses Gespräch verzichten. Insbesondere nach dem ich heute von allen möglichen Hormonen geflutet wurde; auch unabhängig davon, welcher Art es auch sein wird; was es wirklich sein wird. Doch leicht war und ist es nicht. Aber ... nützt ja nichts.

Da Gabe schon rausgegangen zu sein scheint, mache ich mich auf den Weg zur Tür. Dorthin, wo ich ihn vermute. Mit meinem Seesack. Denn, wenn ich mal ehrlich zu mir bin ... Ich glaube, es wird nur eine Richtung geben ...

Erstaunt schreite ich zur Hintertür heran. Ich kann ihn nicht entdecken. Diese eine Stelle wird nicht von ihm besetzt. Stattdessen hängen hier momentan ein paar Kids ab.

Kackshit! Meine Fresse. Beinahe wäre ich in einen vorbeicruisenden Jungen auf seinem Skateboard reingerasselt, der auch nicht nach links und rechts schauen kann. Wahrscheinlich zu cool für die Welt. Kinder ey.

Bedacht entferne ich mich von dem Fleck in sicherere Gefilde. Stets mit dem einen Auge auf den Jungen gerichtet. Man weiß ja nie. Aber mit dem anderen schaue ich nach Gabe. Wo ist er nur, wenn nicht hier? Ich meine, ja klar, ich verstehe schon, hier würde ich auch nicht, wenn die wie blöde rumskaten.

Da sehe ich ihn. Nicht in die Richtung des Weges ist er gegangen, sondern auf die Wiese.

Zunächst stelle ich Augenkontakt mit dem Skateboardjungen her und deute dann mit dem überaus coolen Zwei-Finger-Augen-Move an, dass ich ihn im Blick habe und er mir jetzt nicht in die Bahn rasen soll. So. Dann kann ich ja endlich diesen Platz passieren. Während ich auf die Wiese raufgehe, um zu Gabe zu gelangen, höre ich hinter mir wieder direkt die Rollen über den Boden poltern.

Er steht ganz allein auf der Wiese und wirkt dabei so verloren. Eher verlassen, dabei wartet er doch auf mich.

Gabe scheint wieder in die Ferne zu starren, in Gedanken versunken zu sein. Wo er ist, kann ich nicht sagen. Doch er befindet sich nicht im Hier. Das kann ich mir nicht vorstellen. Er dreht sich nicht zu mir um, als ich mich ihm nähere, bewegt sich kein bisschen, ich kann nicht mal bestimmen, ob er mich mitbekommen hat.

»Hey«, flüstere ich, weil ich ihn nicht erschrecken will.

Noch immer reagiert er nicht. Zwar stelle ich meinen Seesack ab, frage ihn aber: »Soll ich wieder gehen?«

Meine Worte verhallen und doch bleibt die Frage zwischen uns, genauso wie diese merkwürdige Stille. Obwohl im Hintergrund die Kids zu hören sind, ein paar Vögel auf sich aufmerksam machen und entfernte Klänge der Stadt zu uns herüber wehen, ist es eigenartig ruhig. Hier bei uns.

Ich wende meinen Blick in die gleiche Richtung, wie er seinen hält. Vor uns macht die Wiese einen Knick, nach unten. Eine Art Abhang, nur nicht so tief. Dort liegen Schienen – noch einige Meter entfernt. Sie sehen nicht so aus, als wären sie noch in Benutzung. Bisher habe ich auch noch keinen Zug vorbeirauschen sehen oder hören können. Wenn ich weiter nach vorne schaue, ist ein Teil dieser Stadt zu sehen. Und wenn ich nach links schaue, weiß ich, dass dort der Hafen liegt. Auch wenn ich ihn nicht sehen kann. Ich schließe meine Augen und versuche, ihn mir vorzustellen. Diese Ruhe, die ich dort erlebt habe, ich wünsche sie mir jetzt gerade. Um den Moment aushalten zu können, bis Gabe so weit ist.

Lange dauert es gar nicht mehr, da spüre ich, dass er sich bewegt. Daher öffne ich meine Augen, drehe mich aber nicht zu ihm. Aufgrund seiner Ausstrahlung fürchte ich mich davor. Wovor genau kann ich gar nicht sagen.

»Was ist deine Geschichte?«, fragt er abermals. Und auch dieses Mal ist mein Drang der gleiche. Er zieht mich in dieselbe Richtung wie auch sonst. Da brauche ich von niemanden ein »Raus!« zu hören.

Nein, nein, nein. Geh, das ist besser. Flieh!

Egal von welchem FleckWo Geschichten leben. Entdecke jetzt