36 | Irre

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So nah wie jetzt habe ich die Sterne noch nie bestaunen können. In ihrer Vollkommenheit. In ihrer individuellen Daseins Form. Ich scheine zu fliegen. Höher und höher. Das ist irre. Mir ist bewusst, dass das irre ist und dass das gar nicht möglich ist. Aber so fühle ich mich. Vielleicht werde ich ja langsam irre. Irre, irre, irre.

Ja, ich denke, es ist so.

Dazu meine Wangen. Das tut ja schon weh. Dauergrinsen können nicht gesund sein. Dafür schmerzt es ja viel zu sehr. Ich umfasse meine beiden Gesichtshälften und ziehe sie runter. Als ich sie loslasse – pling –, fliegen sie wieder hoch. Ich kann wohl nichts dagegen machen.

Ich schwebe irgendwo zwischen dem Sternenstaub und fühle mich frei. Losgelöst.

Ist das etwas Gutes?

Obwohl ich keinen Schimmer habe, wie das möglich ist, versuche ich es zu genießen. Gleich werde ich die Schicht ins All durchdringen, woher ich das auch immer wissen mag. Ich weiß es einfach. Das erste, was ich tue, ist, die Weltraumluft einzuatmen, auch wenn ich weiß, dass das genauso wenig real sein kann. Da ich schwerelos bin und ich mich leicht wie eine Feder hin und her bewegen kann, drehe ich mich mit dem ganzen Körper und mache mehrere Salti. Und um mich herum die Sterne. Zum Greifen nah.

Mit den Fingern gleite ich durch die Nebelschwaden, die sich hier ebenso erstrecken. Sobald ich durch sie hindurch gefahren bin, verändern sie sich. Dort, wo ich sie berühre, verwandeln sie sich in ein buntes Konfetti, das zu allen Seiten hingesprüht wird. Wow.

Mit meinen Augen folge ich einzelnen Konfettiteilchen. Eins trifft auf einen Stern, der mir daraufhin zuwinkt, indem er seinen einen Zacken leicht biegt. Ich wirbele mich herum und sehe nun Moon-Man. Dort vor mir. Magie. Es ist wirklich wahre Magie. Immer wieder streife ich mit meinen Fingern durch die Schwaden, um sie in ein buntes Konfetti zu verwandeln. Einfach wunderschön. Genießerisch schließe ich die Augen.

»Guten Morgen«, werde ich begrüßt, als ich gerade zu mir komme.

Es war ein Traum. Natürlich war es das. Aber ein wunderschöner. Ich gebe mir selbst noch einen Moment, um den Traum in mir aufzunehmen, damit er nicht ganz weit weg verschwinden kann. Ich möchte ihn bewahren.

Mit jedem Augenblick werde ich klarer und mir wird schockierend bewusst, dass mir gerade jemand einen guten Morgen gewünscht hat. Ich drehe mich um. Da ist Baggy!

Letzte Nacht. Einzelne Sequenzen meines erbärmlichen Monologs kommen mir in Erinnerung und dass er mir Halt gegeben hat. »Ähm. Ja. Guten Morgen«, erwidere ich, immer noch etwas bedröppelt. »Du bist noch hier«, stelle ich fest, nachdem mir auch alles andere eingefallen ist.

»Ja, wie es aussieht, sind wir hier gestern eingeschlafen.«

Gestern ... Letzte Nacht. Nachdem ich mich angelehnt habe ... Bin ich an seiner Schulter eingeschlafen? Ich weiß nur, dass wir uns irgendwann hinten angelehnt haben, ich aber meinen Kopf wieder an ihn heran gelegt habe ... Vermutlich sind wir dann irgendwann eingenickt.

»An solche Nächte könnte ich mich gewöhnen. Da vermisse ich doch so gar nicht mein weiches Bett«, erwähnt er schmunzelnd und scheint auch etwas überfordert zu sein.

Auch wenn ich ihn verstehen kann, ist dies der nächste Stich, den er mir verpasst. »Mmhm«, mache ich daher lediglich.

»Oh. Sorry. Hab–«

»Musst dich nicht entschuldigen«, unterbreche ich ihn.

»Na ja, war schon etwas unsensibel von mir. Ich habe es aber nicht so gemeint.«

»Weiß ich.« Und außerdem ... Egal. Mir fällt ein, dass ich ihm sogar die Geschichte um die Wohngruppe GIL noch letzte Nacht erzählt habe. Keine Ahnung, ob er das noch aufnehmen konnte zu all den anderen Infos, die ich ihm vorher vor den Latz geknallt habe. Das er nicht gegangen ist ... Und immer noch hier ist ... »Danke.«

»Wofür?« Und schon verwirrt er mich wieder.

»Das du nicht sauer bist.«

»Warum sollte ich sauer sein? Gerade ich auf dich?« Das wäre doch vollkommen irre. Als würden Fische laufen können.

»Du weißt warum. Einfach danke.«

»Es gibt eine Menge, die dich abschrecken könnte. Also danke dir«, entgegne ich. 

Jetzt muss er schmunzeln und ich auch. Keine Gegenfragen. Nein, wir schieben danke und ›du bist nicht sauer?!‹ hin und her. Irre. Aber auch ein Fortschritt.

»Irgendwie bin ich vielleicht auch selbst schuld«, flüstere ich. 

»Sag so was doch nicht. Du kannst doch nichts dafür.«

»Nein, ich meine wegen GIL. Ich habe mir Axel nicht mal angehört«, gebe ich zu. Das erste Mal. Sowohl vor ihm als auch vor mir.

Aufgescheucht fragt er: »Was?«

Jap, genau. Ich sagte doch, ich vermassel alles.

Egal von welchem FleckWo Geschichten leben. Entdecke jetzt