12 | Unentdeckt

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»Was?« Wie im Kanon wird das Wort fragend im Saal wiederholt, bis jeder einmal dran war – mit Ausnahme von mir. Doch ich antworte nicht.

Das, was sie als Reaktion sehen werden, ist, dass ich gehe; abhaue; einen Abgang hinlege, durch die Tür, wie vorhin noch Gabe und danach Balou – beide auf unterschiedliche Art und Weise und ich reihe mich sicherlich mit meiner Eigenart ein. Ich schaue nicht zurück.

Ich kann nichts daran ändern, wenn sie sich anderes gewünscht haben. Sie kennen mich doch gar nicht.

Meine Hand ist feucht und in jedem Moment glaube ich, dass mir der verfluchte Seesack daraus rutscht – warum habe ich mir den auch nicht rumgehangen? –, doch ich quäle mich weiter. Raus aus dem Gebäude. Über den Platz des break'n'hut. Weiter auf den Weg, den ich gestern Abend bereits genommen habe, an der Mauer entlang – ohne dass ich aufgehalten werde – und noch weiter. Immer weiter.

Bis ich das Gefühl habe, ihre stechenden Blicke nicht mehr im Rücken spüren zu müssen.

Doch ab der nächsten Gabelung schlage ich dieses Mal einen anderen Weg ein. Nicht Richtung Wohngruppe. Das ist passé. Wie so vieles in meinem Leben. Mich umschauend versuche ich mich zunächst zu orientieren. Das Viertel ist überschaubar, was gut und schlecht zugleich ist.

Mir fällt auf und ein, dass ich aufpassen muss. Eilig halte ich Ausschau nach der nächsten kleineren Straße, in die mich zunächst verpieseln kann. Mit zwei kleinen Schritten gelange ich zur Ampel, an die ich mich lehne. So ein Mist aber auch! Das war schon wieder voll daneben und oberpeinlich!

Mein rechter Fuß wird ungeduldig – warum dauert das aber auch so lange? –, der tippelt vor sich daher, während ich auf der gegenüberliegenden Seite den Weg inspiziere. Es scheint, als würde der dort weitergeführt werden. Nur für die Autos durch die Straße unterbrochen worden.

Aber dort fahren keine. Das ist gut. Als die Ampel endlich umspringt, eile ich rüber, um wieder auf dem Grünstreifen-Weg Deckung finden zu können.

Die Polizei sollte ich meiden. Axel wird eine Vermisstenmeldung herausgegeben haben. Das muss er ja. Die läuft nun schon seit letzter Nacht. Ein Glück, dass ich bisher unentdeckt geblieben bin. Andererseits suchen sie auch nicht unbedingt pausenlos. Sie haben ja auch anderes zutun. Oh Gott! Vielleicht waren sie bei Dana. Ich bringe anderen wirklich nur Leid. Ihre Eltern hatten vermutlich recht mit mir.

Bei der nächsten freien Bank lasse ich endlich meinen Seesack aus meiner fast erschlafften Hand fallen und mich darauf plumpsen. Meine Kapuze des Hoodies ziehe ich über die Cap.

Mein neues Motto wird wohl lauten: So viel wie möglich verbergen und dennoch so normal wie möglich dabei aussehen.

Raus! Hey. Was? Unwillkürlich tröpfeln Wörter der letzten ... nicht mal vierundzwanzig Stunden hintereinander in meinen Kopf hinein. Sie fassen mein Leben ziemlich gut zusammen, muss ich zugeben.

Immer wieder raus, immer wieder neu beginnen und immer wieder Erschütterung. Das ist Mo. Raus! Hey. Was?

Bevor mich Erinnerungen übermannen, die ich nun wirklich nicht gebrauchen kann, greife ich zu meinem Rucksack, um darin nach meiner Wasserflasche zu kramen. Das wird meinen Magen jedoch nicht lange besänftigen. Wie aufs Stichwort fängt der lauthals an zu knurren. Es hallt in meinem Inneren wider. Das letzte Mal gegessen habe ich bei Dana gestern. So ein Mist auch. Aus meiner Hip Bag ziehe ich mein Portemonnaie heraus.

Ich starre und starre da drauf. Dann blinzle und blinzle ich. Doch es bringt alles nichts.

»Scheiße!«, fluche ich. Das kann nicht sein! Direkt spüre ich es unter meinen Achseln. Irgendwann bräuchte ich auch mal eine Dusche, so viel Schweiß, wie ich produziere – vor allem immer wieder neuer obendrauf ... Bäh. Aber wie weit komme ich mit stolzen vier Euros und dann vielleicht noch ... zehn, zwanzig, klimper klimper ... siebenundsechzig Cent? Das kann aber echt nicht sein! Ich wollte doch mit Dana shoppen gehen – na ja, vielmehr wollte sie das, aber egal wie rum auch immer –, habe mir einen Teil des Bekleidungsgeldes auszahlen lassen, also: Wo ist das Geld?

Und zudem habe ich mir doch die letzten Wochen mehr oder weniger mein Taschengeld zusammengespart und nur selten was ausgegeben? Whats going on?

Langsam komme ich aus meinem Tunnelblick wieder zu mir und stelle erschrocken fest, dass ich innerhalb der letzten Minuten aufgesprungen sein muss. Ich drehe mich langsam um, weil es irgendwie noch nicht ganz ankommt, dass ich wahrlich stehe. Vielleicht träume ich ja oder mache eine abgefahrene außerkörperliche Erfahrung durch oder irgendetwas anderes abgefreaktes.

Aber nein, auf der Bank liegt nur mein Zeugs, aber nicht ich. Ich schaue an meinen Gliedmaßen entlang. Das ist abgefreakt. Wie war das mit unentdeckt bleiben? Beide Arme zu den Seiten ausgestreckt – nicht ganz im rechtwinkligen Abstand zum Körper, etwas tiefer – und die Hände zu Fäusten, wie so oft. Meine Beine dazu passend auch etwas breiter auseinanderstehend.

Hier muss ich mich wohl eher fragen: Whats going on mit dir, Mo?

Mit gesenkten Schultern schreite ich rückwärts, bis ich die Bank in den Kniekehlen spüre und lasse mich darauf fallen. Mein Portemonnaie aus Stoff befreie ich aus meiner einen Faust. Ich starre erneut hinein, als könnte sich dadurch irgendetwas ändern.

Zwei Zweieurostücke, ein Zwanzigcentstück, vier Zehncentstücke, ein Fünfcentstück, ein Zweicentstück. Vier Euro und siebenundsechzig Cent. Das ist nicht viel.

Zitternd nehme ich eins der Zweieurostücke und verstaue es in dem kleinen Innenfach meines Rucksacks, das selbst noch mal in einem Fach versteckt ist, was mit einem Reißverschluss verschlossen wird. Für Notfälle. Noch größere. Damit ich es nicht leichtfertig ausgebe.

Wird schon, Mo. Ja, das wird schon. Come on! Pfandflaschen gibt es auch noch. Vielleicht. Hoffentlich.

Prioritäten setzen. Duschen ist überbewertet. Für die erste Mahlzeit ein paar Flaschen zusammensuchen und danach einfach frische Kleidung anziehen.

Ganz einfach ... Und dabei unentdeckt bleiben ...

Egal von welchem FleckWo Geschichten leben. Entdecke jetzt