Ich kann kaum schlafen. Es ist zu gut, um wahr zu sein – für mich. Ganz still liege ich da. Der Wecker auf dem kleinen Tischchen, der neben dem Bett steht, zeigt mir immer mal wieder eine neue Uhrzeit an. Also muss ich zwischendurch geschlafen haben. Doch jetzt gerade starrt Grün auf Grün. Auf grelles Grün mit Neonziffern. Die Weckeruhr verrät mir, dass Mitternacht schon durch ist. Der neue Tag und doch ist es noch Nacht.
»Mach dir Gedanken um Balus Song, wir sollten den wirklich mit ins Programm nehmen und ich will deine Gedanken dazu hören.«
Das hat mir Balou noch am Abend gesagt, bevor wir uns an der Zwischentür Gute Nacht gesagt haben. Sie will meine Gedanken dazu hören. Hat das schon mal jemand anderes zu mir gesagt – außer, wenn es Pflichtprogramm war?
Die Decke auf mir fühlt sich mit einem Mal zu warm und dennoch zu dünn an. Ein Hauch, der da ganz sicher eben noch nicht zu spüren war, zieht mir am Rücken. Widerlich. Ich drehe mich auf die andere Seite. Unruhe. Sie breitet sich in mir aus. Und nun liege ich auf etwas drauf. Ungemütlich. Natürlich. Ich rücke etwas zurück. Da ich die Gardinen nicht zugezogen habe, fällt mir durch die Stadtbeleuchtung auch geradewegs der unbequeme Gast in meinem Bett auf. Mein Notizblock.
Mit meiner Hand krabbele ich aus der Deckenschutzhülle hervor, taste mit den Fingern weiter und – die Entscheidung ist doch schon längst gefallen – greife danach, ich schlage es auf.
Ich weiß genau, zu welchen Seiten mich mein Inneres führen will. Nicht zu den ersten, nicht zu den letzten. Sondern dorthin, wo ich eine geflochtene Kordel platziert habe, damit ich es wiederfinde. Ich erkenne nicht viel, das brauche ich auch gar nicht, denn ich weiß genau, was dort geschrieben steht.
Nimm es dir egal von welchem Fleck.
Und das zigtausendmal und doch jedes Mal auf andere Weise.
Nimm es dir – das Baby, mich. Nimm es dir an, egal von welchem Fleck es kam. Meine Hoffnung als Kind.
An das Schicksal; das Universum oder was auch immer gerichtet. Nimm es dir – mich. Wenn ich wieder fortgeschickt wurde. Ja, mach doch einfach, was du willst. Ist doch eh egal, was ich möchte.
Nimm es dir! Wie oft mir gesagt wurde, dass ich mehr an mich denken soll, für mich einstehen soll. Nimm es dir egal von welchem Fleck. Aber ich konnte nicht so egoistisch sein.
›Nimm es dir egal von welchem Fleck‹ versus ›Es steht mir nicht zu, weil ich von dort komme‹. Irgendeinem unbekannten Fleck.
Nimm es dir. Egal von welchem Fleck. Ich komme.
Entweder die ersten oder die letzten beiden Sätze zusammen bilden eine völlig andere Bedeutung für mich.
Feuchtigkeit sammelt sich bereits unter meiner linken Wange auf dem Kissen. Mit meiner Hand wische ich die Tränen weg, wodurch mein Block zufällt. Es ist genug.
Als ich das nächste Mal die Augen öffne, ist es hell. Ich drehe mich um. Die Uhr meint, es sei früher Morgen. Ob Balou und ihre Familie schon auf sind? Ob ich mich durch ihr Zimmer wagen darf, um auf die Toilette gehen zu können? Nach nur kurzer Zeit des Wartens meint meine Blase, es nicht länger aushalten zu können und drängt mich regelrecht. Ich ziehe schnell meine Hose und meinen Hoodie über und öffne zaghaft die Tür. Balou ist nicht zu sehen, dafür jedoch eine Masse, vergraben unter einer Deckenschicht. Ich schleiche mich durch ihr Zimmer, um dann eilig im Bad verschwinden zu können. Doch es ist abgeschlossen.
»Bin gleich fertig«, wird von dort gerufen. Balous Vater.
Mist, an diese Option hat meine Blase gar nicht gedacht. Ganz toll. Ich starre auf Balous Tür, doch das kommt mir bescheuert vor, auch wenn mein morgendliches Hirn nicht weiß, ob es fähig ist, mit Balous Vater Small Talk zu überstehen. Hibbelig – und an der Grenze zu panisch, mich gleich im Flur einzupinkeln – trete ich von einem Fuß auf den anderen. Dann, nach gefühlten Stunden geht die Tür auf.
»Guten Morgen, Mo. Du bist ja früh auf. Du solltest mal mit meiner Tochter reden.« Balous Vater lacht auf.
Unbeholfen grinse ich ihm entgegen. »Guten Morgen ...« Mir ist der Name schon wieder entfallen. Kacke.
Scheint er nicht zu bemerken, er lässt mich durch und ich kann endlich auf die heiß ersehnte Toilette gehen. Dabei fällt mir auf, dass morgens wohl nicht auf die besondere Ruhe Wert gelegt wird. Kurz darauf höre ich typische Geräusche aus der Küche. Morgendliches Rumpoltern. Länger als ich müsste, verweile ich auf dem Klositz. Muss ich jetzt gleich ins Wohnzimmer? Er hat mich ja nun gesehen. Was wird jetzt von mir erwartet? Für so etwas bin ich nicht gemacht. Ich habe davon doch keine Ahnung. Okay, langsam wird es peinlich, ich kann mich ja hier nicht verschanzen.
Ich linse durch den Türspalt nach links. Balous Tür ist noch immer zu. Doch die vom Elternschlafzimmer ist offen. Auf die Ma zu treffen ohne Balou? Oh je.
»Du musst Mo sein.« Eine freundliche – recht schwache – Stimme erklingt von rechts. Ich trete aus dem Bad und drehe mich zu ihr um.
»Ja. Guten Morgen Frau–«
»Nein, bitte. Nenn mich einfach Anne«, stellt sie sich vor. Eine zierliche, blasse Frau, die dennoch sehr viel Energie und Wärme ausstrahlt. »Dir auch einen guten Morgen. Ich hoffe, du konntest gut schlafen?«
»Ja, danke. Auch, dass ich hier übernachten durfte.«
»Geh ruhig schon ins Wohnzimmer.« Sie fängt wieder an zu husten, so sehr, dass ich ihr am liebsten helfen wollen würde, aber ich weiß gar nicht wie. »Mein Mann wird gleich Balou aus dem Bett schmeißen und dann können wir gemeinsam frühstücken«, erklärt sie, ohne auf ihren Hustenanfall einzugehen.
»Okay. Vielen Dank.« Ich versuche so freundlich wie nur möglich zu klingen, weil ich so dankbar bin.
Mit einem Lächeln verschwindet sie im Bad und ich Richtung Wohnzimmer, in dem mich der Vater mit zwei Tassen in der Hand begrüßt. »Kaffee oder Tee? Oder etwas ganz anderes?«
Oh Gott, wie nett können die denn bitte sein? Das überfordert mich. »Äh ...«
»Oder beides? Du kannst natürlich auch beides haben.«
»Kaffee. Gerne Kaffee«, bringe ich dann zustande.
Nachdem er mir einen Kaffee einschenkt, mir Milch und Zucker hinstellt, geht er tatsächlich zu Balou und holt sie aus ihrem Schlaf. Ich kichere in mich hinein, als ich sie fluchen höre. Sie setzen sich alle an den Tisch. Als ich die drei zusammen sehe, fühle ich Neid aufkommen. So etwas hatte ich nie und werde ich niemals haben. Aber es ist mehr als nur Neid. Ich empfinde auch Freude. Zumindest jetzt gerade. Weil ich ein Teil davon sein darf für diesen Augenblick, den sie mir schenken.
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Egal von welchem Fleck
Teen Fiction◦𝗬𝗼𝘂𝗻𝗴 𝗔𝗱𝘂𝗹𝘁◦ Unerwünscht. Einsam. Abgewiesen. Das ist die 17-jährige Mo gewohnt. ›Raus‹ ist eins der geläufigsten Worte in ihrem unsteten Leben. Stück für Stück bröckelt es - in ihr, um sie herum. Alles. Wechsel und Wandel begleiten sie...