38 | Ehrlichkeit

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Nach wie vor stieren wir uns an. »Wie lautet deine Antwort?«, hakt er nach.

»Wie jetzt?«

»Ja oder Nein?«

»Ich soll antworten, ohne zu wissen, um was für eine Art Deal es sich hier handelt?« Ich zeige ihm einen Vogel. So weit kommt es noch. Immerhin lockert mich das absurde Gespräch wieder auf und ich mache meinem schlabbrigen Seesack nicht mehr allzu viel Konkurrenz. Das Anstarrduell ist ebenso vorüber.

»Warum nicht?«

»Warum sollte ich?«

»Mo?«

»Baggy?«, erwidere ich. Dieses Mal eindeutig beabsichtigt. Ich hebe meine Augenbrauen und er ebenso. Ja, wir sind erneut dabei, uns in Gegenfragen zu verheddern. Aber komm schon, ein paar mehr Infos bitte. Zu viel verlangt? Ich denke nicht.

»Spaßverderberin!«

»Selber«, gebe ich zurück und strecke ihm meine Zunge raus.

»Okay, dann erzähl ich es dir eben so.« Er pflanzt sich neben mich, trommelt mit seinen Fingern auf seinen Beinen rum und dreht sich dann mit seinem Oberkörper zu mir herum. »Aber ... Ähm. Also ich werde es einfach so sagen, wie ich es in meinem Kopf denke, also in meinen Worten, denn ich habe keine Ahnung, wie man so was am besten und richtig sagt. Bitte fass es nicht als etwas Negatives auf. Ich meine das nett, okay?« Eindringlich sieht er mich an, während seine Worte zu mir reinflutschen. Nett, nicht negativ, richtig, keine Ahnung, Worte, einfach ... Einfach so, wie er denkt. Ob das okay ist?!

»Also einfach ehrlich?«, frage ich zurück.

»Genau.«

»Super.«

Meine Antwort scheint ihn zu wundern, doch ich meine es genau so. Ehrlichkeit ist mir wichtig.

»Ich weiß durch den Jugendtreff, dass es eine Notstelle gibt. Keine Ahnung, wie das korrekt heißt. Eine Notstelle der Jugendhilfe. Okay, du nickst, weißt also, was ich meine. Sicherlich weißt du dann auch, dass du dich dahinwenden kannst. Warte noch. Ich wünsche mir für dich, dass du bis zum Ende der Ferien dorthin gehst.«

Darf ich jetzt reden? Ich soll zum Kinder- und Jugendnotdienst gehen? Mich freiwillig in Obhut nehmen lassen? Dann erst in eine Inobhutnahmestelle kommen, um dann erneut den Spießrutenlauf mitzumachen, dem ich gerade erst entflohen bin? Um das nächste halbe Jahr oder länger gequält zu verbringen? Ich weiß ja nicht. Andererseits ... welche Alternativen habe ich? Die letzten Tage haben mir gezeigt, dass es so auch nicht geht und das definitiv besser ist. Essen, Bett, Dusche, Wärme und so vieles mehr hätte ich. Sicherheit. Eine stabile Anlaufstelle ... Aber irgendwie trotzdem nicht das, was ich möchte.

»Also soll ich zur Jugendhilfe zurückgehen?«

»Soll nicht. Ich wünsche es mir für dich.«

»Warum?«

»Weil ich finde, dass du eine sicherere Umgebung verdient hast. So schön der Hafen auch ist, er ist kein Fleck zum Schlafen.«

»War doch ganz nett.« Ich zwinkere ihm zu.

»Ja, für eine Nacht ist manches sehr nett.« Er zwinkert zurück und intensiviert sein Grinsen. Ich boxe ihm gegen die Schulter. »Ey«, beschwert er sich, muss aber lachen.

»Danke«, flüstere ich.

»Wofür?«

»Für vieles, aber vor allem für deine Ehrlichkeit.«

Er breitet seine Arme aus und überlässt es mir, ob ich es annehmen möchte oder nicht. Allein der Gedanke an diese Wärme bereitet mir ein wohliges Gefühl. Es ist etwas vollkommen Neues, was ich so nicht kenne. Es ist schön, macht mir aber genauso Angst. In diesem Moment möchte ich es aber einfach genießen. Zaghaft traue ich mich. Indem ich ihm immer wieder ins Gesicht schaue, das mir vermittelt, dass ich damit richtig liege, rücke ich näher heran, bis ich in seinem Armen bin. Er schließt seine Arme. Locker. Sodass ich das Gefühl habe, mich jederzeit wieder aus der Position zu befreien.

Wie ein Klotz – so komme ich mir vor – hänge ich an seinem Körper. Starr und steif. Doch heute ist es nicht mehr ganz so angespannt wie gestern. Ob intuitiv oder nicht, er macht das für mich genau richtig.

Zwischen uns liegt so viel Ehrlichkeit, stelle ich gerade fest. Bei allem Blödsinn war auch immer das dabei.

Etwas später hole ich – wie es sich für eine Gastgeberin gehört – die beiden übrig gebliebenen Laugenstangen heraus. »Unser Frühstück«, teile ich ihm mit und grinse breit.

»Ich stehe auf Laugengebäck«, sagt er übertrieben begeistert. Keine Ahnung, ob es stimmt, aber er mampft es.

Nach dem Essen stehen wir auf. Wie ein Kavalier will er meinen Seesack schleppen, da zeige ich ihm erneut einen Vogel. Der spinnt doch, das kann ich selbst. Wir reihen uns in den Strom der Menschen ein und gehen gemeinsam zum break'n'hut.

»Haben wir jetzt eigentlich einen Deal?«, fragt er und bleibt abrupt auf dem Weg stehen. Er ist wohl überrascht darüber, dass er mich ohne Antwort davon kommen lassen hat. Mir war das jedoch ganz klar und ich befürchtete schon die ganze Zeit diese Nachfrage.

»Wann ist denn das Ende der Ferien?«

Egal von welchem FleckWo Geschichten leben. Entdecke jetzt