15 | Magie

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Wenn ich wirklich mal in diese Art von Ruhemodus gleite, dann passiert etwas, was ich Magie nenne. Aber keine, die in abgespacten Filmen oder Büchern vorkommt, auch wenn ich die ebenso cool finde. Zumindest teilweise. Was ich aber meine, ist eine Magie, durch die ich mich selbst verzaubern kann.

Es gestalten sich Formen in meinen Gedanken. Auch Töne. Erst einzelne. Sie bauen sich auf, werden mehr und ich lasse es laufen; lasse es geschehen. Wie Bewegungen mit einer Melodie sich ineinander verschmelzen. Eins werden. Es bildet sich ein Ganzes. Nur für mich.

Einerseits folge ich ihnen und auf der anderen Seite habe ich alle Fäden selbst in der Hand und verbinde sie – wie zu einem wunderbaren Zopf.

Unterschiedlich lang, breit, mal geflochten, mal hängen einzelne Strähnen heraus, mal mehrere einzelne, mal ein fester. Immer wieder anders und alle haben etwas gemeinsam. Sie sind für mich Magie.

Als der letzte Ton erklingt, der letzte Schritt gesetzt wird, halte ich meine Augen geschlossen. Ich warte ab, atme die frische Luft ein und nehme es tief in mir auf.

Dieser Tanz – in mir drin – ist mehr als reine Bewegung. Es ist eine Gesamtheit von allem, es ist pure Magie.

Den Moment ausklingend öffne ich meine Lider. Das Meer, was sich sachte in den Schlaf zu wiegen scheint, rückt in den Fokus, langsam komme ich wieder hier und bei mir an.

Heute Nacht werde ich nicht hier verbringen. So schön dieser Ort auch ist. Hier ist es ›gefährlicher‹ als dort. Bei einer Jugendhilfeeinrichtung wird eine Kontrolle sicherlich nicht so oft erscheinen wie am Hafen. Nicht bei der. Ich werde zum Jugendtreff break'n'hut gehen, der trotz, dass wir Ferien haben, bald schließen wird. Dank jahrelanger Betreuung durch die Jugendhilfe weiß ich, was das Jugendschutzgesetz vorsieht. Zur Überbrückung der restlichen Zeit packe ich meinen Seesack vorteilhafter um. Vor allem mache ich oben Platz, damit ich meinen normalen Rucksack oben reinstellen kann und ich nicht mehr mit zwei Taschen rumlaufen muss. Die sechzig Euro in Scheinen, die ich dank des Sicherheitsdienstes wiedergefunden habe, verstaue ich zu meinen zwei Euro ins Geheimfach.

Alles hat auch was Gutes – sogar, dass ich des Diebstahls beschuldigt worden bin. Ich habe mein Geld wiedergefunden.

Es scheint hier bei jeder Tageszeit wundervoll zu sein. Am Tag ist die Ferne und Weite so klar, dass sie dich entführen mag – in der Nacht präsentiert sie schimmernd ihr rätselhaftes ›Gegenüber‹. So wie auch jetzt. Da allmählich die Nacht hereinbricht, spiegelt sich diese in dem fast schwarzaussehenden Meer wider.

Für mich wird es nun Zeit, zum break'n'hut aufzubrechen. Wenn ich mich richtig entsinne, gibt es ein Vordach, unter das ich mich setzen und Schutz suchen kann.

Auch wenn ich mich nun wie eine Diebin fühle, schleiche ich um das Gebäude herum. Ich will nur sichergehen, dass ich wirklich unentdeckt bleibe und ich die Einzige hier bin.

Da dem so scheint, mache ich es mir an der mir geplanten Stelle – unter dem Vordach – so gemütlich ich es kann. Aus dem nun etwas ordentlicher gepackterem Seesack hole ich einen zweiten Pullover – einen mit Reißverschluss – heraus und lege mir den geöffnet über den Oberkörper.

So müde mein Körper auch ist, schlafen möchte ich ungern. Ich versuche, mich abzulenken, beobachte den Himmel mit seinen magischen Elementen. Sie sind zwar hier nicht gut zu sehen, doch ein paar lassen sich erblicken. Das ist auch Magie – eine andere Art zwar, aber es gibt mir Halt. Das allein macht es magisch. Für mich.

Ablenkung klappt nicht lange. Viel zu viel rattert mir durch den Kopf und meine Angst vor irgendwelchen Gefahren, die mir auflauern könnten, kann ich vor mir selbst nicht mehr leugnen. Der Jugendtreff liegt in der Nähe des Spazierwegs. Wer hier wohl nachts so lang kommt? Sie dürften mich nicht sehen, aber wenn irgendjemand Lust bekommt, mal zur Rampe hinunter zu gehen? Was würden sie tun, wenn sie mich dann sehen?

Nichts wird passieren! Absolut gar nichts. Lehn dich jetzt wieder an, schließ die Augen. Es wird nichts geschehen.

Ruhig atme ich durch und versuche, fest an meine eigenen Worte zu glauben. Langsam entspanne ich mich wieder. Mit der Zeit spüre ich, wie mein Kopf schwerer wird und er dann immer mal wieder zur Seite oder nach vorne wegknickt. Schlussendlich schlummere ich wohl sogar ein. Mein Körper hat über meinen Geist gesiegt und vielleicht bin ich ihm auch dankbar dafür. Ich werde in einen traumlosen Zustand gezogen.

»Was tust du denn hier?«, dringt eine Stimme zu mir durch, die mich aufschrecken lässt, wodurch ich meinen zweiten Pulli von mir wegstoße. Nach vorne. Ins Gesicht der anderen Person offensichtlich. Träume ich?

»Fuck!«, rufe ich dann auch noch aus.

Ich bin noch völlig beduselt, zusätzlich wie gelähmt. Ist das die berühmte Schockstarre? Maybe.

Sollte ich nicht aufspringen und weglaufen? Vorher zumindest meine Sachen noch schnappen. Auf den Pulli würde ich verzichten. Aber irgendetwas sollte ich doch tun. Oder nicht?

Aber ich ... Ich sitze wie versteinert da. Ich beweise es mir immer wieder, was ich bin. Unfähig. Wie eh und je. Mo eben.

Warum tue ich denn nichts?

Der Pullover wird vom Kopf gezogen. Mit angehaltenem Atem verfolge ich die Bewegung. Die dumpfen Strahlen der Laternen spenden nur wenig Licht. Doch ausreichend, um die Schemen erkennen zu können.

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