Als würde ich von einer unsichtbaren – jedoch gewaltvollen – Macht niedergedrückt werden, sinke ich hinunter. Meine Hand gleitet auf den Stein der erhobenen Fläche neben mir. Das Podest, auf dem ich letztens schlief.
Niemand will mich. Stumme Tränen kullern; suchen sich nun ebenso den Weg nach unten. Ich lehne mich an das raue Gestein an. Nie war ich von irgendwem gewollt. Von Geburt an. Es war nie anders.
Jetzt sei aber nicht fies und übertreib nicht, Mo!
Was? Meine Adoption? Ich lache laut auf. Es ist mir gleich, ob doch noch jemand in der Nähe ist, aber meine innere Stimme ist der Knaller!
Wahrscheinlich darf ich sie nicht ausklammern, doch ... Doch ... Doch da ist so wenig an Gefühl für sie vorhanden. Meine Wut über die innere Stimme verraucht. Jetzt schäme ich mich, weswegen ich mir übers Gesicht reibe.
Ursula Singen – eine Frau, die selbst nicht ahnte, dass sie nicht mehr lange haben wird. Eine Frau, die ich nicht wirklich kennenlernen konnte, weil ich zu jung war, als ich wieder von ihr wegmusste; als sie von uns – vor allem von mir – ging. Eine Frau, an deren Gesicht ich mich nicht mal erinnern kann. Eine Frau, von der ich eigentlich nur noch den Namen weiß.
Und dass sie mir eine Chance gegeben hat – beziehungsweise eine hat geben wollen. Doch ihre eigene wurde ihr genommen. Wahrscheinlich ist das ebenso meine Schuld. Alle, die mit mir in Kontakt kommen, leiden. Manche mehr, manche weniger. Vielleicht ist das mein Schicksal; ich bringe allen nur Leid und Kummer.
Aber was kann ich dafür, dass in mir drin keine tiefen Gefühle für sie entstehen? Müsste ich mich mehr anstrengen, um sie lieben zu können?
Da ist eine Linie – nicht sichtbar, nicht greifbar –, die es mir nicht erlaubt, dahinter zu steigen. Das ist schrecklich und das ist etwas, was mir leidtut, weil sie es anders verdient hat. Das weiß ich, denn ja, sie hat mich adoptiert.
Nach Ursula Singen war ich kein frischgeborenes Baby mehr, also war es nicht so eilig wie bei den anderen Findelkindern. Natürlich – so wie es mir gesagt wurde – suchten sie händeringend jemanden für mich. Vielleicht sah ich ja aus wie Gollum. Dann würde es mich nicht wundern ... Vielleicht weiß ich manches auch nicht; vielleicht wurde mir nicht alles erzählt. Aus der vorübergehenden Pflegestelle habe ich es nie in eine neue Familie geschafft, bin in die Kinder- und später dann in die Jugendwohngruppen gezogen.
Es wollte mich einfach keiner.
Stumme und verräterische Tränen bahnen sich schon wieder ihren Weg. Trotzig wische ich sie mir weg. Darum will ich nicht heulen. Deshalb stehe ich auf, gehe ein paar Schritte hin und her und ziehe dann meinen Seesack zu mir heran.
Automatisch stelle ich ihn genauso ab, wie er auch eben stand – genau so, wie ich es damals gelernt habe. Ich schaue meine Hände und meine Tasche an.
Eine weitere solche imaginäre Linie tut sich vor mir auf. Eine folgt wohl die nächste. Diese lässt sich plötzlich leicht überqueren ... Ohne mein bewusstes Zutun. Von Beginn an, fällt mir auf, habe ich es so gelernt. Mit den Taschen. Meine Sachen derart abzulegen, sobald ich irgendwo ankomme. Schon ab der ersten Kinderwohngruppe, in die ich nach der Pflegestelle kam. Sie war in einer anderen Stadt, was nicht weiter tragisch war, weil ich offiziell keine Familie hatte und auch niemals haben werde. Selbst Ursula hatte sonst niemanden mehr. Das hätte aber auch nicht unbedingt etwas geheißen.
Diese erste Wohngruppe war ein Graus. Für mich. Für andere nicht. Vermutlich, weil ich ein Findelkind bin. Den Aussagen der anderen nach. Eine größere Anzahl an Kindern, hektische Bewegungen und laute Geräusche – zu viele Eindrücke, mit denen ich nicht umgehen konnte. Und immerzu Berührungen, meistens unbeabsichtigt, doch mir machte das Angst. Selbst der bloße Windhauch, wenn Kinder in der Nähe standen oder an mir vorbeiliefen, jagte mir Schrecken ein. Ich musste lernen, was Berührungen sind. Dass sie normal sein können, welche davon und alles drum herum. Andere würden das durch ihre Eltern, Familien und so weiter erfahren. Sogar, wenn ihr Aufwachsen nicht so harmonisch verläuft, erleben sie dennoch meistens einen Teil davon. Ich vieles bis dahin nicht. Natürlich kannte ich Berührungen, doch eher als ein Teil von organisatorischen Abhandlungen oder als Pflichtprogramm. So etwas wie Gruppengefühl oder Gemeinschaftssinn kannte ich schon gleich gar nicht. Es bedrängte mich, engte mich ein.
So lernte ich, meine Taschen zu packen. Da sowieso der Zeitpunkt kommen würde, ab dem es eine Partei nicht mehr aushalten würde – die Wohngruppe oder ich – lernte ich irgendwann, sie gar nicht mehr auszupacken. Bis vor kurzem. Bis ich in die Wohngruppe GIL kam.
Nur habe ich mich da mal wieder getäuscht.
Ich lasse den Seesack Seesack sein und setze mich im Schneidersitz auf das Plateau. In den Himmel starrend, sacken meine Gedanken und Erinnerungen nach. Bis sich alles irgendwie irgendwo eingeordnet hat; sich ein Plätzchen in meinem Gehirn gesucht hat. Noch ist es zu viel für mich.
Auch danach halte ich meinen Kopf weiter dem Himmel entgegen. Unsichtbare Linien ziehe ich zwischen willkürlichen Sternen und denke mir Sternenformationen aus. Im Hintergrund lausche ich dem sachten Klang des Meeres. So ungern ich es zugebe – selbst vor mir –, die letzten zwei Tage haben mir viel bedeutet. Ich versuche dort oben etwas Schönes für mich zu entdecken. Als Tausch für das break'n'hut. Eine kleine schöne Sache. Für mich. Ich möchte auch etwas Gutes haben.
Eine einzelne Träne kullert über meine linke Wange. Ich wische sie nicht weg; lasse sie laufen. Sie darf sein.
Ich will es nicht nur irgendwie schaffen; nicht nur irgendwie überleben. Ich will leben.
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Egal von welchem Fleck
Novela Juvenil◦𝗬𝗼𝘂𝗻𝗴 𝗔𝗱𝘂𝗹𝘁◦ Unerwünscht. Einsam. Abgewiesen. Das ist die 17-jährige Mo gewohnt. ›Raus‹ ist eins der geläufigsten Worte in ihrem unsteten Leben. Stück für Stück bröckelt es - in ihr, um sie herum. Alles. Wechsel und Wandel begleiten sie...