Prolog

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Sie saß ganz oben auf dem Felsen. Wie fast jeden Tag in den letzten Wochen. Sie war nackt, störte sich aber nicht daran. Obwohl es Herbst war, fror sie nicht, denn sie hatte sich fest in eine dicke Decke eingehülllt. Außerdem war sie ein Werwolf und Werwölfe froren auch in ihrer menschlichen Gestalt nicht so schnell.

Noch immer bot der dichte Strauch vor ihr ausreichend Deckung. Aber seine Blätter waren bereits bunt und verloren nach und nach ihren Halt am Geäst. Trotzdem war es für sie kein Problem. Das Wetter hatte diesen Felsen im Laufe der Zeit so stark zerklüftet, dass große Spalten entstanden waren, in denen sogar Nadelbäume und Nadelsträucher einen Standort gefunden hatten, die nun groß genug waren und ebenfalls für ausreichend Deckung sorgten.

Von unten jedenfalls konnte sie nicht entdeckt werden, es sei denn, sie würde sich in voller Größe ganz vorne auf die kleine Plattform stellen. Sie selbst aber hatte von ihrem Platz aus eine äußerst gute Ausicht und Überblick über den Wald.

Aufmerksam beobachtete sie ihre Umgebung. Ein leichtes Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht, als sie an einer bestimmten Stelle im Wald eine Bewegung entdeckte. Einige Minuten später hörte sie hinter sich Geräusche.

„Schön, dass es endlich geklappt hat", sagte Tonya leise und rückte ein Stück zur Seite.

„Geht es dir gut?", fragte Vicki und kuschelte sich neben ihrer Freundin an den Felsen. Auch sie war nackt und hatte ebenfalls eine Decke fest um ihren Körper gewickelt.

Seit Tonya aus dem Rudel ausgestoßen wurde und ins Niemandsland abgewandert war, hatten sie sich nicht mehr gesehen. Vicki war die Einzige, die wusste, wo sie Tonya finden konnte, oder ihr zumindest eine Nachricht hinterlassen konnte. Ein paarmal schon war sie hier gewesen und hatte Tonya etwas zu essen hinterlassen. Und heute, endlich, hatte es geklappt. Jetzt saßen sie ganz eng beieinander, die Köpfe aneinandergelegt und waren glücklich, die Freundin in guter Verfassung wiederzusehen.

„Wie geht es Mam und Paps?", wollte Tonya schließlich wissen.

„Es geht ihnen gut", erwiderte Vicki leise. „Aber sie vermissen dich. – Wir alle vermissen dich."

„Ich vermisse euch auch", seufzte Tonya. „Aber ich konnte nicht anders."

„Wir wussten alle, wie du dich entscheiden würdest", lächelte Vicki traurig. „Jedenfalls hast du kräftig für Wirbel gesorgt. Dein Abgang ist immer noch Thema Nummer eins in der Stadt."

„Ich hoffe, ich habe damit niemandem Schwierigkeiten bereitet."

„Nun ja. Alpha Norman ist immer noch sehr wütend auf dich. Er wollte die ganze Familie bestrafen, aber Davids Chef hatte sich vor deinen Paps gestellt und an seiner Entscheidung, ihm die ganze Schichtleitung zu übertragen, festgehalten."

„Gegen den Willen vom Alpha?", kicherte Tonya erstaunt.

„Gegen den Willen vom Alpha", bestätigte Vicki. „Er sagte, David wäre nicht für deine Taten verantwortlich und David sei einer seiner besten Mitarbeiter, den er nicht so einfach ersetzen könne und deshalb auch nicht verlieren wolle."

„Und Max?"

„Max hat seine Prüfung bestanden und gehört nun zur Eliteeinheit", berichtete Vicki stolz. „Der Alpha braucht jeden guten Krieger, deshalb sind wir sicher."

„Und die Jungs?"

„Bente und Cosmo sind Berühmtheiten in der Schule. Jeder sucht Kontakt zu ihnen, um so viel wie möglich über dich zu erfahren", lachte Vicki. „Melli und David müssen achtgeben, dass die beiden nicht zu sehr abdrehen. Mark dagegen hat sich sehr verändert. Soviel er früher mit dir gestritten hat, so sehr vermisst er dich jetzt. Aber er ist glücklich mit seiner Dina. Sie tut sich immer noch schwer damit, dass ihr Freund tatsächlich ein Werwolf ist, aber Mark ist sehr liebevoll und geduldig mit ihr. Du würdest sie jedenfalls mögen."

Gedankenverloren saßen sie lange schweigend nebeneinander und starrten hinaus in die Ferne.

„Und Hendrik?", fragte Tonya schließlich leise.

„Max und Florian trainieren häufiger miteinander."

„Ehrlich?", fragte Tonya erstaunt. „Mein Bruder und der Beta?"

„Ja", bestätigte Vicki kichernd. „Deshalb wissen wir auch einiges von dem, was im Alphahaus läuft. Alpha Norman hat wieder die volle Kontrolle über das Rudel übernommen und ist mit Luna Adelin zurück ins Alphahaus gezogen. Hendrik hat mit Maras und Florians Hilfe einiges von deinen Sachen in Sicherheit bringen können, bevor Alpha Norman deine Sachen vernichten konnte. Luna Adelin ist sehr, sehr unglücklich, denn Alpha Norman ist noch dominanter und cholerischer als früher und Hendrik kopiert nun dein Verhalten. Widerspruchslos gehorcht er wie ein braver Sohn, solange es sich um Rudelangelegenheiten handelt. Alpha Norman möchte aber, dass Hendrik sich für Evelina entscheidet. Sie geht tagtäglich ein und aus im Alphahaus und versucht Hendrik zu umgarnen und zu verführen. Hendrik aber verschließt sich vor ihr. Immer wenn sie versucht, ihn anzufassen, knurrt er sie böse an. Darüber ist Alpha Norman so richtig sauer. Vor zwei Tagen hatte Hendrik seinen Eltern und Evelina sehr deutlich gesagt, dass er eine Mate hätte, und deswegen keine andere Frau an seiner Seite dulden würde. Was glaubst du, was da los war?"

Tonya lachte leise.

„Wir waren auf einem guten Weg", flüsterte Tonya traurig. „Warum musste der Alpha das alles kaputt machen?"

„Du hattest Recht mit dem, was du im Stadion gesagt hattest. Er hat keine Geduld, hatte er noch nie. Ich glaube, die meisten haben jetzt erst so richtig begriffen, dass er schon immer sofort und auf der Stelle seinen Willen durchsetzen wollte, ohne Rücksicht auf Verluste und notfalls mit Gewalt. Sein Rückhalt im Rudel ist auch nicht mehr sehr groß. Sie gehorchen, eben weil er der Alpha ist, aber die Unzufriedenheit wächst."

Wieder saßen sie einige Zeit schweigend in ihren Gedanken versunken da.

„Was hast du jetzt vor?" Jetzt war es Vicki, die das Schweigen durchbrach.

„Ich weiß es noch nicht", murmelte Tonya.

„Du willst es mir nur nicht sagen, gib es zu?", murrte Vicki gespielt beleidigt.

„Ich weiß es wirklich noch nicht", sagte Tonya leise. „Aber wenn ich es wüsste, wäre es besser, du würdest nichts davon wissen."

Vicki nickte. Sie wusste, dass Tonya Recht hatte.

„Komm", forderte Tonya Vicki auf.

Geduckt kroch sie zu diesem kleinen Durchgang im Felsen und stieg vorsichtig den steilen Weg hinunter in die kleine Höhle. Sie zeigte auf eine kleine Niesche im Gestein. Dort lag der Mondstein.

„Wenn ich die Gegend verlasse und einige Zeit unterwegs sein werde, werde ich den Mondstein mitnehmen. Wenn der Mondstein hier liegt, dann bin ich in der Nähe."

Vicki nickte und umarmte Tonya ganz fest.

„Pass auf dich auf, versprich es mir", forderte Vicki.

„Ich werde auf mich aufpassen", versprach Tonya. „Und du versprichst mir, dass du nur dann hierherkommst, wenn du sicher bist. Hast du auch nur den geringsten Verdacht, dass dir jemand folgt, darfst du nicht hierherkommen. Niemand darf von diesem Versteck hier wissen. Versprich es mir."

„Ich schwöre es dir bei meinem Leben", flüsterte Vicki.

„Dann werde ich jetzt mal für etwas Ablenkung sorgen, damit du sicher zurückschleichen kannst", lächelte Tonya, legte ihre Decke zur Seite und verwandelte sich. Aufmerksam sicherte sie ihre Umgebung, bevor sie, nach einem letzten Blick auf Vicki, vorsichtig unter einem stacheligen Gebüsch ins Freie robbte.

Suche, Tonya!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt