Justine in Kairo - Teil 37

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Zum ersten Mal seit langer Zeit saß Justine als Passagier in einem Flugzeug. Sie hatte ihren Job als Stewardess gekündigt und die Uniform für immer ausgezogen. Nun saß sie in Zivil auf ihrem Sitzplatz und ihre Hände lagen untätig in ihrem Schoß. Das war seltsam, denn das Flugzeug fühlte sich noch immer wie ihr Arbeitsplatz an. Immer wieder war sie kurz davor, aufzuspringen und sich nützlich zu machen.

Die Stewardessen dieser Airline kannte sie nicht persönlich, aber auf dem einen oder anderen Flughafen war sie ihnen sicher schon begegnet. Die brauchten ihre Hilfe zwar nicht, aber es wäre schön gewesen, wenn sie etwas zu tun gehabt hätte. So hätte sie sich zumindest ablenken können. Aber weil sie rein gar nichts zu tun hatte, dachte sie die ganze Zeit an den Streit mit ihren Eltern. Die waren Katholiken bis ins Mark und es war ein Schock für sie, als sie ihnen von Amir erzählt hatte.

Schon bei der Erwähnung seines Namens hatten sich bei ihrem Vater die Nackenhaare aufgestellt. Als sie dann erzählte, dass sie zum Islam übergetreten war, konnte sie ihren Eltern das Entsetzen ansehen. Gebrüllt und getobt hatte ihr Vater. "Der Islam ist eine religiöse Ideologie mit dem Anspruch auf Weltherrschaft! Er ist gegen alles, was ein schönes Leben in einer weltoffenen, toleranten Demokratie ausmacht. Und du willst dich dieser Ideologie anschließen?"

Seine Worte hallten in ihrem Kopf wider. Ihre Mutter hatte währenddessen nur geweint, unfähig, etwas zu sagen. Es war ihnen nicht gelungen, sie umzustimmen. Schließlich hatte ihr Vater ihr verboten, sein Haus jemals wieder zu betreten und sie rausgeworfen.

Nach dem Streit mit ihren Eltern steckte sie mehrere Tage fest in einem emotionalen Strudel aus Traurigkeit, Wut und Verwirrung. Obwohl sie fest zu ihrem Glaubenswechsel stand, schmerzte es sie zutiefst, ihre Eltern so zu sehen. Sie hatte so sehr gehofft, dass die beiden zumindest versuchen würden sie zu verstehen, aber stattdessen war sie nur auf eine Wand gestoßen. Sie hatten auch am Telefon gemauert und alles abgeblockt, was sie ihnen sagen wollte.

Durch ihren Beruf hatte sie nur noch sehr wenige Freunde und bei denen lief es ganz ähnlich, wie bei ihren Eltern. Einige konnten ja noch verstehen, dass sie Amir liebte. Aber ihren Übertritt zum Islam fand niemand gut und deshalb hatten sich auch ihre wenigen Freunde von ihr abgewandt.

Sie war überrascht wie viel Unverständnis und Hass ihr entgegengeschlagen war. Doch sie war mehr denn je entschlossen, ihre Hochzeit durchzuziehen, denn er war ganz anders, als all die anderen Dreckskerle, die sie bisher kennengelernt hatte. Er war der netteste und sanfteste Mann, den es auf diesem Planeten gab. Wenn ihre Freunde und ihre Familie nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten, dann würde sie eben in der Familie von Amir einen neuen Platz und neue Freunde finden.

Kairo war nah und jetzt pochte ihr Herz vor Freude so schnell, wie das eines Vogels. Sie dachte an ihren Amir und die bevorstehende Hochzeit. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie sich an den Tag erinnerte, an dem sie ihn kennengelernt hatte. Damals war sie noch Stewardess und er ein Passagier auf einem Flug von Paris nach Dubai. Nur ein Blick hatte genügt und es hatte bei ihnen gefunkt. Mit seinen tiefbraunen Augen und seinem warmherzigen Lächeln hatte er ihr Herz im Sturm erobert.

Er war freundlich und charmant und sie hatte sich sofort zu ihm hingezogen gefühlt. Als sie ihn später zufällig im Hotel wieder traf, erschien es ihr wie eine Fügung des Schicksals. Sie hatten den Abend miteinander verbracht, waren essen gegangen und hatten stundenlang geredet. Er sprach hervorragend Französisch und es war, als würden sie sich schon ewig kennen.

Zum Glück wusste er nichts von ihrer Vergangenheit als Escort Lady und das sollte auch so bleiben. Sie wollte ihm und seiner Familie als eine ganz normale Frau begegnen. In Gedanken verglich sie ihn mit ihrem letzten Freund. Der hatte zwar Charisma, aber er war ein gewalttätiger Mistkerl, der sofort zuschlug, wenn ihm etwas nicht passte.

Noch ganz genau erinnerte sie sich an die Nacht, als er das erste Mal handgreiflich wurde. Sie hatten sich über eine Nichtigkeit gestritten und plötzlich hatte er ihr ins Gesicht geschlagen. Viel zu lange war sie bei ihm geblieben. Die Angst vor seiner Wut und den Konsequenzen, wenn sie versuchen würde, ihn zu verlassen, hatte sie lange Zeit davon abgehalten, etwas zu unternehmen.

Doch dann hatte sie die Kraft gefunden, sich von ihm zu trennen. Tief atmete sie durch. Dieses Kapitel ihres Lebens war Vergangenheit. Nie wieder wollte sie mit einem solchen tyrannischen Monster zusammen sein.

Nur kurz darauf hatte sie bei Marita angefangen und von da an wurde alles besser. Seit dem ging es ihr finanziell gut und schließlich hatte sie sogar Amir kennengelernt. Zum Glück hatte Marita Wort gehalten und ihre Bilder sofort von ihrer Seite genommen. Es schmerzte sie ein wenig, dass Marita so gar kein Verständnis dafür hatte, dass sie ein neues Leben beginnen wollte. Doch es war ihr Leben! Sie bestimmte selbst darüber und wollte sich von niemandem mehr drein reden lassen.

Entspannt lächelte sie und freute sich darauf, seine Familie kennenzulernen, auch wenn sie sich ein wenig vor den vielen fremden Menschen fürchtete. So wie er es ihr gesagt hatte, war seine Familie wohl sehr wohlhabend. Sie hatten ihr Vermögen mit Luxusgütern und Immobilien gemacht. Bei ihr zu Hause war das Geld eigentlich immer knapp gewesen und deshalb war sie sich vollkommen im Klaren darüber, dass sie wohl auch finanziell in eine völlig neue Welt eintauchen würde.

Der Gedanke an die bevorstehende Hochzeit ließ ihr Herz schon wieder schneller schlagen. Amir wollte sie so schnell wie möglich heiraten und obwohl ihr das eigentlich zu schnell ging, hatte sie zugestimmt. Sie liebte ihn und war bereit, dieses Abenteuer zu wagen. Die Vorstellung, schon bald Teil seiner wohlhabenden Familie zu sein, erfüllte sie mit gemischten Gefühlen. Einerseits freute sie sich darauf, in einem Leben voller Luxus und Sicherheit anzukommen. Andererseits wusste sie, dass sie sich anpassen und ihren Platz in dieser neuen Welt finden musste. Tief atmete sie durch und schloss kurz die Augen.

"Ich schaffe das", flüsterte sie.

Als die Maschine zur Landung in Kairo ansetzte, blickte sie neugierig aus dem Fenster. Unter sich sah sie die riesige Stadt, ein Mosaik aus modernen Hochhäusern und alten Gebäuden. Obwohl sie als Stewardess oft in Kairo war, kannte sie nur den Flughafen. Noch nie hatte sie auch nur einen Fuß in die Stadt gesetzt. Jetzt freute sie sich darauf, diese Megacity zu erkunden.

Der Flughafen war voller Menschen. Er war erfüllt von vielen verschiedenen Sprachen, Stimmen und Geräuschen. An diese Hitze würde sie sich wohl gewöhnen müssen. Sie konnte nicht verstehen, wie einige Frauen sich in dieser Wärme mit ihren traditionellen Gewändern verhüllen konnten. Wie hielten die das aus? Einen Hidschāb wollte sie auch nach der Hochzeit nicht tragen. Das hatte sie mit Amir abgesprochen und er war einverstanden. Dadurch fiel ihr die Entscheidung, ihn zu heiraten sehr leicht.

Am Gepäckband wartete sie geduldig, bis ihre Koffer auftauchten. Als sie endlich alle ihre Gepäckstücke auf dem Wagen verladen hatte und dem Ausgang zustrebte, sah sie ihn bereits durch die Glastür, umringt von vielen lächelnden Menschen. Seine Familie war wirklich sehr zahlreich erschienen, genau wie er es vorausgesagt hatte.

Alle waren sie gekommen, um sie zu begrüßen. Von der Herzlichkeit fühlte sie sich fast ein wenig überwältigt. Von einer Umarmung wurde sie zur nächsten weitergereicht. Leider verstand sie noch kein einziges Wort, aber das würde sich sehr schnell ändern. Sie wusste genau, dass sie Arabisch ebenso schnell lernen würde, wie sie Englisch, Spanisch und Italienisch gelernt hatte.

Alle zusammen machten sie sich auf den Weg zum Parkplatz. Dort warteten mehrere Autos auf sie. Justine saß hinten im Fond, umgeben von seinen  Schwestern und Kusinen. Eine von ihnen war wohl ebenso aufgeregt wie Justine. Sie hatte sich ihr als Nefertiti vorgestellt und jetzt bombardierte sie Amirs Braut mit Fragen. Sie sprach ein recht annehmbares, verständliches Französisch, aber mit einem starken Akzent.

Justine antwortete ein wenig schüchtern und blieb einsilbig, aber Nefertiti ließ nicht locker. Auf der gesamten Fahrt redete sie ununterbrochen und so taute die junge Französin immer mehr auf. Der Verkehr war chaotisch, eine scheinbar endlose Flut aus Autos, Bussen und Motorrädern, die in einem anarchischen Muster durch die Stadt fuhren. Ein wenig erinnerte sie der Verkehr an Paris. Auch dort hupten die Leute ständig, doch hier herrschte ein viel größeres Chaos.

Sie war fasziniert von den lebhaften Bildern, die an ihr vorbeizogen. Immer wieder fuhren sie an Ständen mit frischem Obst und Gemüse vorbei. Wäre die Abgaswolke der Autos nicht so dicht, hätte man vermutlich das Aroma von exotischen Gewürzen und frisch gekochtem Essen riechen können. Sie sah Menschen, die sich unterhielten, lachten und gestikulierten.

Als sie das Zentrum von Kairo erreichten, machte Amir extra einen Umweg und fuhr an den Pyramiden von Gizeh vorbei. Alle anderen Autos der Kolonne folgten ihm. Für Justine waren die Pyramiden ein atemberaubender Anblick und ein enormer Kontrast zur Innenstadt von Kairo. Sie konnte kaum glauben, dass sie tatsächlich hier war und freute sich sehr.

In Mohandessin, einem der wohlhabenden Viertel von Kairo endete die Fahrt. Dort fanden alle Autos einen Parkplatz in der hauseigenen Tiefgarage.

Als sie aus dem Auto stieg und sich zusammen mit der Familie auf den Weg zum Aufzug machte, war die Anspannung zurück. Sie war neugierig auf ihr neues Zuhause, aber sie fürchtete sich auch ein wenig. Die große Eingangshalle des Wohnkomplexes war elegant gestaltet, mit einem glänzenden Marmorboden und einem kunstvoll verzierten Kronleuchter. Das gesamte Gebäude strahlte eine Mischung aus traditionellem ägyptischen Charme und modernem Luxus aus.

Eine Treppe höher öffnete er die Tür zu seinen Räumen. Der erste Eindruck war überwältigend. Sie trat ein, in ein geräumiges Wohnzimmer mit prächtigen Möbeln. Die Wände waren in sanften Erdtönen gehalten und mit Kunstwerken und traditionellen ägyptischen Ornamenten geschmückt. Auf dem Boden lag ein kostbarer, persischer Teppich.

Ein großes Sofa, das mit weichen Kissen in leuchtenden Farben dekoriert war, dominierte den Raum. In einer Ecke des Wohnzimmers stand ein niedriger, reich verzierter Holztisch, auf dem eine Kupferkanne und einige kunstvoll bemalte Tassen platziert waren, offensichtlich für den traditionellen arabischen Kaffee, den er so liebte.

Sie freute sich über die vielen Pflanzen, die dem Raum Leben einhauchten. In der Nähe des Fensters stand eine hohe Palme, deren Blätter sanft im Luftzug wippten.

"Es gibt noch etwas, das du wissen solltest", sagte er, während er sie weiter in die Küche führte. "Das hier ist nicht nur mein Zuhause, sondern auch das meiner ganzen Familie. Jeder verheiratete Mann hat hier seine eigene Wohnung, für sich und seine Familie. Aber die Küche meiner Mutter ist das Herzstück des Hauses. Du wirst gleich sehen, was ich meine." Mit einem Lächeln öffnete er die Tür. Nur einen kurzen Blick warf Justine in die Küche und sah, dass sie voller Frauen war, die alle beschäftigt schienen. Hier trafen sie sich anscheinend jeden Tag, um zu kochen, zu reden und Zeit miteinander zu verbringen.

"Das ist der lebendigste Ort im ganzen Haus. Du wirst dich hier ganz schnell wie zu Hause fühlen", sagte er mit einem Lächeln. "Ich will dir noch dein eigenes Schlafzimmer zeigen. Dort wirst du bis zur Hochzeit wohnen", meinte er und ging voran. Sie lächelte und spielte diese kleine Komödie gern mit. Natürlich hatten sie bereits das Bett miteinander geteilt, aber hier in seinem Zuhause musste sie so tun, als wäre sie noch immer eine unberührte Jungfrau. Erst in der Hochzeitsnacht durfte sie in seine Räume einziehen.

Sie konnte es kaum erwarten und dachte zurück an die Zeit, die sie in verschiedenen Hotels zusammen im Bett verbracht hatten. Jetzt waren sie ganz allein auf dem Flur und Justine griff verstohlen nach seiner Hand. Ihm schossen in diesem Moment die gleichen Bilder durch den Kopf wie ihr. Sofort reagierte sein Körper als er daran dachte, was für herrliche Laute sie beim Sex von sich gegeben hatte. Am Anfang hatte sie bei jedem Stoß vor Glück nur leicht gequiekt. Später hatte sie ihre Lust hinausgeschrien.

"Bis zur Hochzeit müssen wir noch warten...", keuchte er atemlos und befreite seine Hand aus ihrer Hand. Nur mit größter Mühe bekam er sich wieder in den Griff und zeigte ihr das Zimmer, in dem sie wohnen sollte.

Es war ein ruhiger, friedlicher Raum, ohne den Lärm der Straße. Ein großes Bett mit einem kunstvoll geschnitzten Rahmen stand in der Mitte. Vor den Fenstern hingen schwere Vorhänge, die tagsüber das grelle Licht und die Hitze abhalten sollten. Ein kleiner Schreibtisch in einer Ecke des Zimmers, darauf ein paar Bücher und eine Lampe, deuteten darauf hin, dass Amir oft hier arbeitete.

In High Heels auf dem StrichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt