Der Morgen lag noch schwer auf meinen Schultern, als ich mich endlich entschloss, aus dem Bett zu steigen. Es war mein erster Tag in dieser fremden Welt, und die Nervosität pochte in meiner Brust wie ein Trommelschlag. Doch ich wusste, dass ich mich zusammenreißen musste. Dies war mein erstes Jahr auf eigenen Beinen, und ich wollte es richtig machen.
Langsam schwang ich meine Beine aus dem Bett und ließ die nackten Füße den kühlen Holzboden berühren. Das Gästezimmer, in dem ich die nächsten Monate verbringen würde, war schlicht, aber auf eine beruhigende Weise gemütlich. Das Bett stand unter dem Fenster, das zum Garten hinausging, und der Schreibtisch in der Ecke war sauber, fast unberührt. Der kleine Schrank war gerade groß genug für die wenigen Sachen, die ich mitgebracht hatte, und auf der Kommode lagen noch einige von Mrs. Collins liebevoll drapierte Blumen. An der Wand hing ein altes Landschaftsgemälde, dessen Farben im Laufe der Jahre verblasst waren, doch gerade diese Vergänglichkeit verlieh dem Bild eine eigentümliche Ruhe.
Alles hier war anders als zu Hause, aber genau das hatte ich gewollt. Ich war weit weg von dem Vertrauten, von dem Gewohnten, und das war in Ordnung. Es war, wie es sein sollte.
Im Badezimmer spritzte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht, die Kälte biss leicht in meine Haut und wusch die letzten Reste von Schlaf und Unsicherheit weg. Als ich mein Spiegelbild betrachtete, konnte ich die leise Anspannung in meinen Augen sehen. Es war nicht einfach, das zu ignorieren, aber ich zwang mich zu einem kleinen Lächeln. „Das schaffst du," flüsterte ich meinem Spiegelbild zu, als ob die Worte alleine ausreichen würden, um den Tag leichter zu machen. In diesem Moment wollte ich es wirklich glauben.
Die Treppe hinunterzugehen fühlte sich fast wie ein symbolischer Akt an - ein Schritt in einen neuen Tag, ein neuer Anfang. Der warme Duft von Kaffee und frisch gebratenem Speck schlug mir entgegen, als ich die Küche erreichte. Der Raum war erfüllt von einer heimeligen Lebendigkeit, die mich unwillkürlich beruhigte, als wäre ich in eine Szene aus einem Film getreten, wo alles ein wenig weicher, ein wenig freundlicher wirkte.
„Guten Morgen!" Mrs. Collins drehte sich mit einem Lächeln von der Herdplatte um. Ihre rötlich-braunen Locken wippten fröhlich, und ihre blauen Augen funkelten, als hätten sie die Fähigkeit, jedes Grau im Leben aufzuhellen. Sie sah genau so aus, wie ich mir eine fürsorgliche Mutter immer vorgestellt hatte - jemand, der Wärme ausstrahlte und dessen Anwesenheit den Raum erfüllte. „Hast du gut geschlafen, Lena?"
„Ja, danke", antwortete ich und zwang ein Lächeln auf meine Lippen, während ich mich an den massiven Holztisch in der Mitte der Küche setzte. Es war eine kleine Lüge, aber eine harmlose - die Art von Lüge, die ich benutzte, um niemandem zur Last zu fallen.
„Das freut mich." Sie stellte mir eine Tasse Kaffee hin, der Dampf stieg in kleinen Spiralen auf und erfüllte die Luft mit einem reichen, dunklen Aroma. „Ethan kommt gleich runter, er wird dich heute zur Schule bringen."
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, hörte ich schwere Schritte auf der Treppe, die das leise Klingen des Geschirrs und das Brutzeln des Specks übertönten. Ethan trat in die Küche, eine hohe, schlanke Gestalt mit zerzaustem braunem Haar, das ihm in die Stirn fiel. Seine grünen Augen musterten mich mit einer Mischung aus Neugier und verschlafener Gleichgültigkeit. Er trug ein einfaches graues T-Shirt, das seine schlanke, aber muskulöse Statur betonte, und eine Jeans, die an den Knien abgewetzt war. In seinem Gesicht lag ein mürrischer Ausdruck, der jedoch nicht unfreundlich wirkte - vielmehr schien er Ausdruck einer tiefen Morgenmüdigkeit zu sein.
Ich war mir meiner selbst plötzlich sehr bewusst. Mein langes, blondes Haar hatte ich hastig zu einem Zopf gebunden, der jetzt etwas zerzaust über meine Schulter hing. Mein einfaches T-Shirt und die Jeans, die ich trug, waren praktisch, aber wenig aufregend. Ich wusste, dass ich wahrscheinlich genauso müde aussah, wie ich mich fühlte, doch ich zwang mich, Ethan ein kleines Lächeln zu schenken. Es war ein Versuch, meine Unsicherheit zu verbergen, und vielleicht auch, um zu signalisieren, dass ich versuchte, mich anzupassen.
„Morgen," murmelte Ethan, während er sich eine Kaffeetasse nahm und meine Anwesenheit mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis nahm. Seine Stimme war tief und rau, als hätte er gerade erst das Sprechen wiederentdeckt. Ich erwiderte den Gruß leise und nahm einen Schluck Kaffee, dessen bittere Wärme mich ein wenig belebte.
„Ethan bringt dich heute zur Schule", wiederholte Mrs. Collins, als sie ein paar Scheiben Speck in die Pfanne legte. Ihre Freundlichkeit und die mütterliche Wärme, die sie ausstrahlte, hatten mir von Anfang an das Gefühl gegeben, willkommen zu sein. „Die Schule ist nicht weit. Keine Sorge, du wirst dich schnell eingewöhnen."
Ethan nickte zustimmend und nahm einen großen Schluck von seinem Kaffee, bevor er mich wieder ansah. „Bist du bereit?" fragte er, als er die Tasse abstellte, seine Augen zeigten ein sanftes Aufmuntern, das nicht ganz zu seinem mürrischen Ausdruck passte.
„Ja, ich glaube schon", antwortete ich, auch wenn ich mir innerlich nicht ganz so sicher war. Die Wahrheit war, dass ich mich alles andere als bereit fühlte. Es war mein erster Tag in einer neuen Schule, in einem fremden Land, und ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde. Aber Ethans halbherziges Lächeln und die ruhige, fast nachsichtige Art, mit der er die Frage gestellt hatte, gaben mir zumindest das Gefühl, dass ich nicht ganz allein war.
Draußen war es kühl, die Luft frisch und klar, als ich ihm zum Pickup folgte, der in der Einfahrt stand. Der alte Truck hatte etwas Vertrautes und doch Fremdes an sich, ein seltsamer Mix aus Nostalgie und Abenteuerlust, der mich gleichermaßen beruhigte und nervös machte. Die Sitze waren abgenutzt, der Stoff rau und warm unter meinen Fingern, als ich mich hineinsetzte. Der Innenraum roch angenehm nach Leder, gemischt mit einem Hauch von Benzin, und als Ethan den Motor startete, brummte der Wagen tief und gleichmäßig, fast als wolle er mir zusichern, dass alles gut werden würde.
Die Fahrt zur Schule war kurz, aber in der Stille, die uns umgab, fühlte sie sich länger an. Ich starrte aus dem Fenster und ließ meinen Blick über die vorbeiziehende Landschaft wandern. Die Häuser standen weit auseinander, eingetaucht in das satte Grün der Felder und die hohen Schatten der Bäume. Alles wirkte weit und offen, als würde sich die Welt hier weiter ausdehnen als zu Hause.
„Bist du nervös?" Ethans Stimme durchbrach die Stille, seine Augen immer noch fest auf die Straße gerichtet.
„Ein bisschen", gab ich zu, meine Stimme leise und zögernd. „Alles ist so neu."
„Das wird schon", sagte er mit einer Ruhe, die ich ihm in diesem Moment wirklich glaubte. „Die Leute hier sind nett. Es dauert nicht lange, bis du dich eingelebt hast."
Seine Worte wirkten wie Balsam auf meine angespannten Nerven, und ich spürte, wie ein Teil meiner Anspannung abfiel. Als wir die Schule erreichten, atmete ich tief durch. Das breite, zweistöckige Gebäude aus rotem Backstein sah im Licht der aufgehenden Sonne fast einladend aus. Es wirkte, als könnte es einen schützen, als wäre es ein sicherer Ort in dieser fremden Welt.
„Hier sind wir", sagte Ethan, als er den Truck parkte. „Viel Glück."
„Danke", murmelte ich und stieg aus. Mit einem letzten Blick zu Ethan - er nickte mir aufmunternd zu - machte ich mich auf den Weg in diese neue, unbekannte Welt. Vor mir lag ein Jahr voller Möglichkeiten, ein Jahr, das mich herausfordern würde, und auch wenn ich noch nicht wusste, was es bringen würde, war ich bereit, mich darauf einzulassen. Die Unsicherheit mischte sich mit einer leisen, zarten Hoffnung. Denn trotz allem, was mir bevorstand, war da das Gefühl, dass ich wachsen würde - dass ich dieses Jahr wirklich nutzen könnte, um herauszufinden, wer ich war..
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Heartstrings in the U.S
RomanceDie 17-jährige Lena beginnt ihr Austauschjahr in einem beschaulichen amerikanischen Städtchen, wo sie von der Familie Collins aufgenommen wird. Zwischen den alltäglichen Abenteuern und dem neuen Leben entwickelt sie eine unerwartete Verbindung zu Na...