"Taehyung, sieh mich an, atme tief ein…und wieder aus...und nochmal…”
Jungkook hat mein Gesicht mit seinen Händen umschlossen und gibt mir den Rhythmus der Atmung vor. Ich schaue ihm in die Augen und atme mit ihm gemeinsam dabei kurz tief ein und lange wieder aus. Ich vergesse sogar für einen Moment alles um mich herum. Die Anwältin, mit der ich mich schon ein paar Mal unterhalten habe, ist jetzt ebenfalls neben mir und erkundigt sich, wie es mir geht.
“Herr Kim, brauchen Sie eine Pause? Wollen Sie kurz raus an die frische Luft?”
Ich unterbreche den Blickkontakt zu Jungkook und sehe jetzt zu ihr herüber.
Langsam schüttel ich meinen Kopf.
“Ich schaff das schon, geht wieder”, flüstere ich und blicke dann wieder in Jungskooks Gesicht. Dieser erwidert meinen Blick besorgt.
“Bist du dir sicher Tae?”, fragt er und wieder nicke ich.
Ich richte mich wieder auf und blicke zur Richterin.
“Die Verhandlung wird fortgeführt”, sagt diese und mir wird wieder Shiwons Präsens deutlich.
Die Richterin fährt fort und beschreibt, wie Shiwon nach der Tat den Tatort verlassen hat und sich im Anschluss mit Freunden getroffen hat, um feiern zu gehen.
Mir wird schlecht. Wie aus dem nichts, mischt sich zu meiner Angst und meinem Unbehagen plötzlich eine unbändige Wut. Dieser Scheißkerl, er ist davon ausgegangen, dass ich tot bin und hat nichts besseres zu tun als feiern zu gehen? Das zeigt, was für ein Psychopath er ist.
“Herr Kim hat über 11 Stunden in seinem Zustand in der Wohnung gelegen, bis er dann am nächsten Morgen von Herrn Park und Herrn Jeon aufgefunden wurde.”
Wie von selbst, so als hätte ich keine Macht mehr über meinen Körper, dreht sich mein Kopf in Shiwons Richtung.
Ich will ihn nicht sehen und doch habe ich so eine Wut und so ein Verlangen in mir, ihm gegenüber zu treten und mich nicht mehr zu verstecken.
Doch der Blick, der mich trifft, trifft mich völlig unerwartet.
Shiwon grinst, genauso wie vorhin, als er den Saal betreten hat, sieht er mich jetzt an.
Ich halte den Blick, doch lange schaffe ich es nicht, ihn standzuhalten.
Warum tut er mir das an? Ich bin so wütend! Wieso nimmt er sich einfach das Recht, mich so zu behandeln?
Ich versuche mich zu beruhigen und gedanklich bei den Worten der Richterin zu bleiben.
Diese endet jetzt mit der Beschreibung des Tatherganges.
Doch Zeit zum Durchatmen bleibt mir nicht und die Staatsanwältin übernimmt und führt jetzt alles noch detaillierter aus. Sie geht darauf ein, was für eine Toxische Beziehung wir hatten, wie Shiwon mich Psychisch Misshandelt und manipuliert hat und auch, das er nicht abgeneigt war, auch körperlich gröber zu werden und sich Sex einzuforndern und zu nehmen, auch wenn ich es nicht wollte. Dann geht sie noch auf die körperlichen und psychischen Folgen ein, die ich wegen ihm habe, die Essstörung, die ich noch während ich mit ihm in einer Beziehung war, entwickelt habe und die Verletzungen und Folgen nach der Tat.
“Sehen Sie sich doch Herrn X mal an, dieses selbstgefällige Grinsen in seinem Gesicht ist kein einziges Mal verschwunden, genauso wenig wie er seinen Blick nicht von Herrn Kim abwendet, das sagt doch eine Menge über Ihn aus. Dieser Mann ist ein Psychopath und gefährlich!”
Ich zucke nach ihren Worten ein wenig zusammen. Er sieht mich die ganze Zeit schon an? Was ist, wenn er mich immer noch tot sehen will und nie aufhört, darüber nachzudenken? Irgendwann wird er ja auch wieder aus dem Gefängnis herauskommen und was dann?
Erneut spüre ich die Panik in mir aufsteigen. Nein, Taehyung, bleib ruhig. Ich muss im Hier und Jetzt bleiben.
Ich bin hier in Sicherheit und es bringt jetzt nichts, alles zu zerdenken.
“Herr Kim? Ich werde Ihnen jetzt einige Fragen stellen, sind Sie dazu in der Lage?”
Die Richterin holt mich mit ihrer Frage wieder aus meinen kreisenden Gedanken heraus.
Langsam nicke ich. Mein Herz schlägt so stark in meiner Brust und ich fühle ein leichtes innerliches Zittern.
“Herr Kim, können Sie mir bitte nochmals in eigenen Worten schildern, was an dem Tag aus Ihrer Sicht passiert ist?”
Bevor ich antworte, atme ich nochmal tief ein.
Ich erzähle dann, wie ich mich am Abend noch mit Jieun getroffen habe und mit ihr spazieren gegangen bin und wie ich Shiwon dann vor meiner Wohnung begegnet bin.
“Er sagte zu mir, dass es ihm leid tue und er sich geändert hat. Ich meinte dann, dass ich seine Entschuldigung nicht hören will, aber er hat mich angefleht, dass ich ihn wenigstens anhören könne. Mir war das alles etwas unangenehm, da wir vor dem Haus standen und auch Leute vorbei gingen und er klang auch so ehrlich und aufrichtig in dem Moment, also habe ich nachgegeben und ihn mit in meine Wohnung genommen.”
Warum war ich nur so naiv und habe all die Jahre nicht erkannt, was für ein Mensch er wirklich war? Ich versuche mich wieder zu sammeln und weiter zu reden, aber ich brauche einen Moment.
“Sobald wir in meiner Wohnung waren, sagte er dann zu mir, dass er mich zurückhaben will. Ich habe ihm daraufhin aber klipp und klar zu verstehen gegeben, dass ich niemals wieder zu ihm zurückkehren würde.
Ich meinte dann noch, dass ich bereits jemanden neuen kennengelernt habe.
Er hat aber nach meinen Worten keine Anstalten gemacht zu gehen, also habe ich ihn dann aufgefordert meine Wohnung zu verlassen.”
Ich schlucke und senke meinen Blick.
Ich will nicht, dass die Bilder wiederkommen, ich weis nicht, ob ich darüber reden kann. Ich bin überfordert und das Rauschen in meinen Ohren wird wieder lauter.
“Herr Kim?”, hohlt mich die Stimme der Richterin wieder aus meinen Gedanken und ich richte meinen Blick wieder nach vorne, in ihre Richtung.
“...was ist dann passiert?”
Warum muss ich das alles überhaupt noch einmal erzählen? Ich habe doch schon alles erzählt! Ich versuche mich zu beruhigen und zu sammeln, dann spreche ich mit zittriger Stimme weiter.
“Er hat mich plötzlich nur noch… angesehen, sein Blick er… er wurde so anders. Er sagte was wie “dann muss es wohl so sein” und… er…”
Reiß dich zusammen, denke ich, warum bin ich innerlich so blockiert?
Ich versuche mich so weit wie möglich von dem was ich sage abzugrenzen, so als würde ich die Erinnerungen einer fremden Person wiedergeben.
“Er hat mich gepackt und… festgehalten. Ich hab dann geschrien und wollte mich wehren, aber er hat mich plötzlich geschlagen und ich… ich bin hingefallen.”
Ich mache eine kurze Pause und versuche die Gedanken in meinen Kopf zu sortieren.
“Dann hat er mich getreten, mehrfach und… er hockte sich danach über mich und hat mich angefangen zu würgen.
Er hat gelächelt, er hat einfach gelächelt…”
Ich starre irgendwo ins nichts und sehe jetzt nur noch das Bild von Shiwon vor mir, aus der Position, in der ich war, als er seine Hände um meinen Hals gelegt hat.
“Herr Kim? Sie haben fürs Erste genug gesagt, Sie können wieder platz nehmen.”
Ich höre ihre Worte so, als wären sie ganz weit weg. Ich kann auch nicht sofort reagieren. Ich soll aufstehen? Wo soll ich hin? Warum wird mir hier das alles angetan?
Eine Berührung lässt mich zusammenzucken, doch als ich in Jungkooks Gesicht sehe, wird alles wieder klarer.
“Komm Tae”, er legt eine Hand auf meinen Rücken, reicht mir meine Krücken und führt mich dann zu den leeren Stühlen, die vor dem Publikum aufgereiht sind. Ich setze mich und die Richterin ruft jetzt Jungkook auf.
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Gebrochen | Taekook
FanficTaehyung stand mit beiden Beinen im Leben, eine Wohnung, einen Job. Doch wie soll man alles schaffen und aufrechterhalten, wenn man nicht in die Gesellschaft hineinpasst? Wenn man den Anforderungen nicht gerecht werden kann? Das einzige, worin er no...