39. Kapitel: "So trifft man sich wieder..."

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„Und? Hast du schon einen Schlachtplan?", erkundigte sich Jacob beim Frühstück.
„Naja", sage ich zwischen zwei Bissen, „Augen zu und durch hat sich bist jetzt eigentlich immer bewehrt!"
„Bist du dir denn sicher, dass sie so ausrasten werden?", fragte er.
„Jacob", sagte ich ruhig, „wir reden hier von meinen Eltern. Ich bin eh schon überrascht, dass mir  FBI, CIA, Secret Service, Maffia und sämtliche Geheimdienste aller Länder noch nicht auf den Fersen sind! Erinnerst du dich noch, als wir 4 waren und ich beim Versteck spielen unter unserer Eingangstreppe eingeschlafen bin und du mich stundenlang nicht gefunden hast? Meine Eltern haben sofort Charlie angerufen um mich vermisst zu melden und meinen Kleiderschrank verwüstet um herauszufinden, was ich an dem Tag getragen hatte! Also ja, ich bin mir sicher!"
„Hast Recht", meinte er kauend.
„Vermutlich wäre es ihnen damals nicht einmal aufgefallen, dass ich weg war, wenn du nicht verzweifelt zu ihnen gekommen wärst.", murmelte ich.

„Auf in die Höhle des Löwens!", grummelte ich und lief, die Augen starr auf die Haustüre gerichtet, auf mein Haus zu.
Ich wollte gerade unser Grundstück betreten, als ich gegen eine unsichtbare Wand lief.
Nein.
Das war es nicht.
Die Wand war nicht unsichtbar.
Sie war kalt und und übersät mit Dreck und kleinen Steinen.
Und es war auch keine Wand.
Ich war gestolpert.
Verwirrt blickte ich mich um und erblickte meinen Erzfeind.
Der kniehohe Gartenzaun.
„So trifft man sich wieder...", hauchte ich und verengte meine Augen zu Schlitzen, „Soll das jetzt jedes Mal so enden, wenn ich nach Hause komme?"
Ich stand auf und klopfte mir den Dreck von der Kleidung.
Vielleicht war das ja Karma.
Oh je. Hoffentlich hatte das keiner gesehen.
Ich wurde von einem Gartenzaun fertig gemacht!
Schon wieder!
„Wir sprechen uns noch!", drohte ich ihm und setzte meinen Weg, diesmal ohne Zwischenfälle, fort.
So leise wie möglich schloss ich die Türe auf.
Vielleicht konnte ich mich ja ins Haus schleichen, ohne dass mich meine Eltern bemerkten?
Aber früher oder später musste ich ihnen ja unter die Augen treten.
Ich dachte kurz nach.
'Dann lieber später!', entschied ich für mich.
Ich huschte durch den Gang, vorbei an Küche und Wohnzimmer zur Treppe.
Ich hatte schon drei Stufen erklommen, doch als ich den Fuß auf die vierte setzte fing das Holz an zu knarren, als würde es im nächsten Moment durchbrechen.
„Verdammt!", fluchte ich leise.
Ich hasste Holz.
Warum konnten wir keine Steintreppe haben?!
Steine waren mir schon immer sympathischer.
„Cassandra?", hörte ich die ruhige Stimme meiner Mutter aus dem Wohnzimmer rufen.
Oh je.
Ruhiger Tonfall.
Ganzer Name.
Das war kein gutes Zeichen.
Hoffentlich würde irgendjemand meine Leiche finden, falls etwas davon übrig bleiben sollte.
Ich seufzte, machte auf dem Absatz kehrt und ging ins Wohnzimmer zu meinen Eltern.
„Hallo.", begrüßte ich sie und setzte einen extra schuldbewussten Blick auf.
Die Blicke meiner Eltern musterten mich streng und abwartend. Anscheinend wollten sie dass ich mit dem Sprechen begann.
„Es tut mir Leid, dass ich weggerannt bin, ohne etwas zu sagen!", begann ich meine Entschuldigung, „Aber Jacob war so verstört, als er von der Hochzeit von Bella und Edward gehört hatte und er ist doch mein Freund, ich konnte ihn nicht alleine gehen lassen! Ich musste auf ihn aufpassen, ich..."
Ich stockte, es machte mich nervös, dass sie einfach auf dem Sofa saßen und mich grimmig anstarrten. Wenn sie mich anschrien, ja, damit konnte ich umgehen. Ich schrie zurück, knallte ein paar Türen und verkrümelte mich in meinem Zimmer. Das hatte sich all die Jahre bewehrt. Aber diese Situation war neu, und sie gefiel mir gar nicht.
Ich schaute sie flehend an, konnten sie nicht einfach etwas dazu sagen?
Schließlich erbarmte sich mein Vater: „Seit wann bist du zurück?", fragte er mit kalter Stimme.
Ich musste schlucken. Das war wirklich schlimmer, als angeschrien zu werden.
„Seit heute, wir...", setzte ich an, wurde jedoch von meiner Mutter unterbrochen.
„CASSANDRA ALEXIA JOLYN GRANT, LÜG UNS NICHT SO DREIST INS GESICHT!!!", schrie sie und ich zuckte zusammen.
Der volle Name, mit Zweit-, Dritt- und Nachname.
Ich verstand jetzt, wie sich die Dinosaurier fühlten, als sie den Kometen gesehen haben, der sie auslöschen sollte. Meine Mutter war der Komet und ich der überdurchschnittlich intelligente Dinosaurier, der wusste, dass dies sein Ende bedeuten würde.
„Ich habe heute morgen beim Bäcker Sue Clearwater getroffen, die mich gefragt hat, wie es mir geht, wo doch meine Tochter wieder da ist. Seth schien ganz aus dem Häuschen gewesen zu sein, als er es seiner Mutter erzählte, und auch Leah ist wieder normaler. Und ich steh da wie der letzte Idiot, weil es meine Tochter nicht für nötig hält, mal vorbeizuschauen und Bescheid zu geben, dass sie wieder da ist, nachdem sie einen Monat spurlos verschwunden war!!!", schimpfte sie immer noch viel zu laut für meine empfindlichen Ohren.
„Es tut mir Leid!", entschuldigte ich mich reumütig, „Aber es gab gestern noch einen Zwischenfall und letztendlich war es dann drei Uhr morgens und ich wollte euch nicht wecken, deswegen bin ich mit zu Jake und..."
„Du denkst also, dass es in Ordnung ist, wochenlang ohne ein Lebenszeichen zu verschwinden, aber um drei Uhr nachts nach Hause zu kommen geht dann doch zu weit?!", rief sie aufgebracht.
Ich hasste es, wenn sie das tat. Sie hörte einfach nur was sie hören wollte und verdrehte die Tatsachen so, wie es ihr gerade in den Kram passte.
Ich zwang mich weiter ruhig zu bleiben und mich nicht provozieren zu lassen.
Ich wollte gerade zu einem defensiven 'Nein, so meinte ich das nicht...", ansetzen, als ich mich umentschied, da das sowieso nichts bringen würde.
„Es tut mir Leid, dass ich mich nicht gemeldet habe, aber wir hatten nichts bei uns, kein Geld, kein Handy, keine Papiere. Wie hätte ich mich denn melden sollen?!", verteidigte ich mich.
Gut, dass war gelogen, aber ich konnte meiner Mutter ja schlecht erzählen, dass wir nach Russland geschwommen waren, durch ganz Asien gelaufen, dort bei rumänischen Vampiren gewohnt hatten, deren Telefon ich sicher hätte nutzen können, oder meinen verschollenen Bruder in Italien um ein Handy hätte bitten können.
Die Wahrheit war, dass ich einfach mit mir selbst und Jacob genug zu tun gehabt hatte und schlichtweg nicht an meine Eltern gedacht hatte.
„Ihr hättet euch sicher irgendwo ein Handy leihen können! Das schafft man schon, wenn man es wirklich will!", beschwerte sie sich weiter lautstark.
Das machte sie immer. Wenn sie keine guten Argumente hatte, redete sie einem ein schlechtes Gewissen ein.
„Ja, okay!", gab ich schließlich genervt zu, „Ich habe schlichtweg nicht daran gedacht irgendwem Bescheid zu sagen! Wie du dir vielleicht vorstellen kannst, ist es nicht ganz einfach durchzukommen, wenn man gar nichts hat! Wir hatten genug eigene Probleme!"
„Das ist ja herzzerreißend, dass Madame in Selbstmitleid ertrinkt! Hast du auch nur ein einziges mal daran gedacht, wie es uns dabei geht? Wie es für uns ist, wenn unser zweites Kind, wie ein Déjà-vu, von zuhause wegrennt und spurlos verschwindet? Obwohl es dieses Mal kein kleineres Geschwisterkind gab, welches die volle Aufmerksamkeit gebraucht hatte und du Grund gehabt hättest dich vernachlässigt zu fühlen.", sprach sie mir weiter die Schuld zu.
Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen: „Ich bin schuld? ICH BIN SCHULD?! Ihr glaubt, dass ich Schuld daran habe, dass Jeremy abgehauen ist, weil ihr mir mehr Aufmerksamkeit geschenkt habt als ihm?!", fragte ich ungläubig und leicht hysterisch.
Ich sah in die wütenden, unergründlichen Augen meiner Mutter.
Mein Vater saß wie immer unbeteiligt daneben und sagte entweder gar nichts, oder hielt zu meiner Mutter.
Obwohl sie mir nicht direkt zustimmten, war das fehlende Abstreiten meiner Worte Zustimmung genug.
All die Jahre hatten sie mir die Schuld am Verschwinden und vermeintlichen Tod meines Bruders gegeben, weil sie sich selbst nicht eingestehen wollten, oder konnten, dass sie als Eltern schlichtweg versagt hatten. 
Abgesehen davon stimmte das ja gar nicht, da Jemy nicht gegangen war, weil er sich nicht geliebt fühlte, sondern weil er uns so liebte und er keinen verletzen wollte.
Ich nickte verstehend: „Weißt du was ich heute gelernt habe?", fragte ich meine Mutter ruhig, wartete jedoch auf keine Antwort, „Es ist egal was für Argumente man hat, solange man einen Schuldigen hat. Hast du vielleicht noch andere Sachen für die du mir die Schuld geben willst? Die Klimaerwärmung, den zweiten Weltkrieg, die hungernden Kinder in Afrika oder vielleicht Justin Biber?!"
Zum Ende hin wurde ich immer lauter und starrte meine Mutter nun zornig an.
„Was ist denn ein Justin Biber?", fragte mein Vater unwissend, jedoch hielten es weder meine Mutter, noch ich für nötig darauf zu antworten.
„Was willst du damit sagen?!", fauchte mich meine Mutter an.
„Ich will damit sagen, dass ich immer für alles die Schuld bekomme, auch wenn ich nichts dafür kann! Ich war fünf als Jemy verschwunden ist, verdammt! Und es lag mit Sicherheit nicht daran, dass ihr mir mehr Aufmerksamkeit geschenkt habt als ihm. Soll ich euch mal was verraten? Wir haben für euch doch gar nicht existiert! Alles was für euch eine Rolle gespielt hat waren eure bescheuerten Jobs!", schrie ich nun und versuchte die Tränen weg zublinzeln, die sich in meinen Augen bildeten.
„Das ist nicht wahr!", fuhr mich meine Mutter an, „Wir haben gut für euch gesorgt und euch sehr viel beigebracht!"
Da brannte bei mir endgültig die Sicherung durch, es konnte doch nicht sein, dass Menschen so ignorant waren und sich Jahrelang etwas einredeten was von der Wahrheit weiter entfernt ist als die Andromeda Galaxie von der Milchstraße!
Ich explodierte förmlich und warf ihnen alles an den Kopf, was sich über die Jahre so angesammelt hatte.
„Vielleicht war das bei Jeremy so, aber wollt ihr ein Geheimnis wissen?", ich machte eine kurze Pause und starrte meine Eltern an, „Meine Kindheit war beschissen! Ihr habt mich mit dem Arsch nicht angeschaut! Ihr habt mir nichts beigebracht, gar nichts! Jeremy hat mir gezeigt, wie ich meine Schuhe binde. Jeremy hat mir das Uhrlesen beigebracht. Jeremy hat mir gezeigt wie ich mit Messer und Gabel esse und mich zum Musikunterricht gebracht. Er hat mich erzogen, mich ins Bett gebracht und mir gezeigt wie ich Fahrrad fahre. Er ist sogar mit mir zum Frisör und zum Arzt gefahren! Als er weg war war ich ganz alleine. Ihr beiden habt mir danach, wenn möglich, noch weniger Beachtung geschenkt. Ich war sogar an meinem ersten Schultag alleine, weil ihr es, im Gegensatz zu allen anderen Eltern, nicht für nötig gehalten habt dabei zu sein! Allerdings, mir fällt da gerade eine einzige Sache ein, die ihr mir beigebracht habt, nämlich wie man sich als Sechsjährige um sich selbst kümmert, wenn ich nicht regelmäßig bei Billy etwas zu Essen bekommen hätte, wäre ich vermutlich verhungert. Seit 12 Jahren, 12 JAHREN, werde ich von euch wie eine Aussätzige behandelt! Ihr habt keinen Grund, sauer auf mich zu sein, weil ich mich einen Monat nicht gemeldet habe! Jeremy war mehr Eltern für mich, als ihr es jemals wart! Und wollt ihr noch etwas wissen? Ich wünschte er wäre jetzt hier, anstatt euch!"
Meine Eltern blickten mich stumm, aber noch immer wütend an.
Es hatte gut getan, sich das alles mal von der Seele zu reden. Anstatt es wie bisher jahrelang in sich rein zu fressen und alles zu schlucken.
Als meine Mutter gerade zu einem Kommentar ansetzen wollte unterbrach ich sie, ich kannte diesen Gesichtsausdruck; von Reue, Schuld, Verständnis oder Bedauern keine Spur.
„Schon klar. Wie kann ich es wagen so mit euch zu sprechen. Ihr seid meine Eltern und ich muss euch Respekt entgegen bringen. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass ihr mich versteht, oder es überhaupt versucht, aber es war nötig, dass ich das mal loswerde und ihr es euch anhört, da ihr mich sowieso bestrafen werdet, dachte ich jetzt ist der passende Zeitpunkt. Also, was ist meine Strafe?", fragte ich ruhig und kalt.
„Hausarrest!", fauchte meine Mum.
„Wie lange?", fragte ich, noch immer in dem gleichen, emotionslosen Tonfall.
„Bis wir sagen es reicht!", meckerte sie nun wieder mit erhobener Stimme, „Handy und Laptop kannst du auch gleich abgeben!"
Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und ging die Treppe hinauf in mein Zimmer, wo ich sofort von einem weißen Fellball attackiert wurde.


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