32. Kapitel: 'Immer die gleichen blöden Fragen'

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„Wow, ich wusste nicht, dass es so viele von uns gibt!", staunte ich, als mir Jeremy erzählte, dass sie hier zu 50st lebten, „Ich dachte wir sind Einzelgänger, wie schafft ihr es hier so friedlich miteinander zu leben?"
Ich schaute in die Runde. Mein Bruder hatte mich zu sich auf das Sofa gezogen und meine Begleiter hatten sich auch dazugesellt.
„Wir kennen es nicht anders.", antwortete mir Kevin, einer der Jungs die mich hergebracht hatten.
Fragend zog ich eine Augenbraue hoch.
„Das haben wir deinem Bruder zu verdanken.", erklärte Lucy, die schon vorher hier saß, „Er hat uns alle gefunden, kurz nachdem wir den Schatten eingeladen hatten. Er hat uns gezeigt, wie wir mit ihm umgehen müssen, was wir beachten müssen und wie wir zusammen leben können, ohne uns gegenseitig anzufallen. Er ist sozusagen unser Anführer, der einzige Seher unter uns."
„Deswegen bist du gegangen?", fragte ich und schaute meinen Bruder an.
Er nickte, „Es hatte sich alles verändert. Ich konnte mich nicht kontrollieren, hatte Blackouts und Angst jemanden zu verletzen, den ich liebte. Ich wollte um jeden Preis vermeiden dir weh zu tun. Aber genau das habe ich getan..."
Ich musste zugeben, ich war ein bisschen eifersüchtig. Für all diese Menschen war er dagewesen, hatte ihnen geholfen sich mit ihrem neuen Leben zu arrangieren, nur ich musste alleine damit fertig werden.
Ich schluckte das Gefühl von Einsamkeit, das in mir aufkam, herunter und nahm meinen Bruder in den Arm: „Ich schon gut, du hast es für das Richtige gehalten."
„Aber es war trotzdem falsch.", erklärte er bitter.
„Du wusstest es nicht besser. Es war nicht das Falsche, schau nur wie vielen Menschen du helfen konntest!", munterte ich ihn auf, „Du warst verwirrt und hast nach deinen Instinkten gehandelt. Das ist okay."
„Aber ich hätte dir helfen müssen, als du das erste Mal mit deinem Schatten konfrontiert wurdest. Man lädt den Schatten nur ein, wenn einem etwas furchtbares widerfährt. Was war es?", eindringlich schaute er mich an.
„Ach, nur ein paar Vampire auf einer Klassenfahrt in Berlin.", erklärte ich schulterzuckend.
Mein Bruder starrte mich an, als wäre ich ein kleines, grünes Männchen mit quietsche Stimme und bunten Luftballons.
„Vampire?! Aber du lebst noch! Und wieso warst du in Berlin?", ratterte er mehrere Fragen auf einmal herunter.
„Ja, ich schon. Die Vampire leben nicht mehr.", grinste ich spöttisch, „Und Berlin, ja das ist irgendwie deine Schuld..."
„Wieso meine Schuld?", fragte mein Bruder.
„Du hast mir immer von dem Schüleraustausch nach Deutschland erzählt, den du mal gemacht hast, erinnerst du dich?", er nickte zögerlich, „Naja, das war der einzige Anhaltspunkt, den ich hatte, nachdem du weg warst. Ich habe mir fest vorgenommen, dich zu suchen, zu finden und nach Hause zu holen. Du hast so viel von München geschwärmt, dass ich mir sicher war, du würdest dort sein. Als ich alt genug war, habe ich Mum und Dad überzeugt, dass ich ein Auslandsjahr machen darf. Ich habe sogar unsere Klasse dazu gebracht unsere Klassenfahrt nach Berlin zu machen, so wie du damals. Natürlich hatte ich bei alledem den Hintergedanken dich zu finden. Es hätte mir von Anfang an klar sein müssen, dass das ein aussichtsloses Unterfangen war. Aber wie heißt es so schön, die Hoffnung stirbt zuletzt. "
„Aber woher wusstest du dann, dass er hier ist? Woher wusstest du, wer wir sind und, dass wir Jeremy kennen?", fragte einer meiner Begleiter, ich hatte seinen Namen vergessen.
Ich schmunzelte: „Ich habe euch in der Zeitung gesehen, in einem kleinen Ort, auf dem Weg hierher. Ich habe die Artikelüberschrift nicht verstanden, aber es stand irgendetwas von Beschützer und Rom darin. Rom als Katzenstadt, euer loses Mundwerk, dass dem von Jemy und mir so gleicht, eure Katzenaugen, die im Scheinwerferlicht aufgeleuchtet haben und mich erst auf eure Schatten aufmerksam gemacht haben, dadurch haben sich die Puzzlestücke wie von selbst zusammengefügt. Ich wusste nicht, ob er wirklich hier war, aber es war meine letzte Hoffnung.", erklärte ich mein Verhalten.
„Warte!", unterbrach mich mein Bruder, „Du kannst 'sehen'?"
„Ja, jetzt halt dich mal nicht für etwas besonderes, nur weil du Stufe 4 erreicht hast!", stauchte ich ihn liebevoll zusammen.
„Stufe 4?", fragten mehrere verwirrte Zuhörer.
„Naja, also so wie ich das sehe gibt es mehrere verschiedene Stadien, oder Stufen des Schattens.", setzte ich zur Erklärung an, „In Stufe 1 verändert sich deine Wahrnehmung. Man realisiert den Schatten, lädt ihn aber noch nicht ein. Stufe 2 ist das an die Grenze gehen. Man verliert die Kontrolle, weil man sich den Schatten in Stress oder Angstsituationen zu Nutzen macht, ohne ihn zu akzeptieren. Stufe 3 ist aufgeteilt. Entweder man akzeptiert seinen Schatten, dann hat man sich meistens unter Kontrolle, hat aber hin und wieder Blackouts und die tierischen Instinkte überwiegen, wenn man über die Grenze geht. Oder auf der andere Seite von Stufe 3 ist das abdriften in den Schatten. Man erkennt seinen Schatten nicht an und unterdrückt ihn. Das geht eine Zeit lang gut, doch irgendwann reißt sich der Schatten von seinen Fesseln los und übernimmt die Kontrolle. Man verliert sich in ihm, die menschlichen Eigenschaften gehen verloren und man lebt wie ein Tier. Und dann gibt es Stufe 4. Diese kann man nur über die erste Hälfte von Stufe 3 erreichen. Es ist die Akzeptanz, das Verschmelzen mit dem Schatten. Man ist sich seiner Taten vollkommen bewusst, auch wenn man dem Panthera die Führung überlässt, man hat keine Blackouts und kann auch die Schatten der anderen Panthera, nicht nur wahrnehmen, sondern auch 'sehen'", erklärte ich ihnen meine Theorie.
„Klingt einleuchtend.", stimmte Kevin zu, „Dann seid ihr die einzigen beiden 'sehenden' unter uns."
„Und Jeremy hat es geschafft uns alle auf die gute Seite von Stufe 3 zu ziehen!", stimmte Rosemarie, eines der Mädchen aus der Runde, zu.
„Aber wie hast du es eigentlich geschafft Vampire zu besiegen? Und das alleine? Wir brauchen ein halbes Dutzend unseres Gleichen, um einen zur Strecke zu bringen, der gegen den Vertrag verstoßen hat", erklärte Will, der vorhin mit meinem Bruder hier saß, fassungslos, „Was ist dein Geheimnis, Mädchen?"
„Naja, sagen wir, ich bin nicht ganz so wie ihr.", grinste ich belustigt.
„Wie meinst du das?", fragte mein Bruder.
„Naja, wie es scheint habe ich neben dem Panthera Gen von Dad, etwas von Mum geerbt, dass du nicht geerbt hast.", druckste ich herum.
„Und was?", hakte er neugierig nach.
„Du kennst die Geschichten ebenso gut wie ich. Die 'Mythen', die wir am Lagerfeuer erzählt bekommen haben. Die Quileute sind Gestaltwandler, Menschen, die sich in riesige Wölfe verwandeln können.", erzählte ich.
„Und du kannst das auch?", fragte Lucy begeistert, „Und was ist mit deinem Schatten?"
„Dein Schatten ist ein Jaguar.", stellte Jeremy fest.
Ich nickte. „Stimmt, das ist er.", sagte ich, „Aber Lucy, ich kann mich nicht in einen Wolf verwandeln. Stattdessen verwandele ich mich in einen Jaguar."
Es kam genau die Reaktion, die ich erwartet hatte.
Alle starrten mich mit großen, ungläubigen Augen an.
„Das kann nicht sein!", erklärte Jeremy.
Ich rollte mit den Augen: „Ja. Genau so unmöglich, wie Vampire, Einhörner und Menschen, die sich wie Großkatzen benehmen.", sagte ich ironisch.
„Du hast also einen Schatten, aber im Gegensatz zu uns nimmst du nicht sein Verhalten an, sondern sein Aussehen?", erkundigte sich einer der Umstehenden.
Ich nickte: „Ja, bis auf ein paar Besonderheiten fasst es das ganz gut zusammen."
„Das glaube ich erst, wenn ich es sehe!", staunte Lucy.
„Gerne doch!", lachte ich und konzentrierte mich.
Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.
Ich blickte mich um und sah, dass es mein Bruder war.
„Cas...bist du...bist du dir sicher, dass es ungefährlich ist?", fragte er, als wäre ihm die Frage sehr unangenehm.
Ich runzelte die Stirn: „Ja! Ich habe mich schon tausend Mal verwandelt. Mir passiert schon nichts.", sagte ich beschwichtigend.
„Das meine ich nicht. Ich meine ob du dich kontrollieren kannst, wenn du dich verwandelt hast. Schatten sind oft unberechenbar, vor allem, wenn sie die Nähe anderer Schatten nicht gewöhnt sind."
Ich schnaubte empört: „Also hör mal! Was glaubst du wie ich es schaffe ein normales Leben zu führen? Indem ich bei jeder Kleinigkeit explodiere und jedem die Kehle raus reiße, der mir begegnet?"
„Tut mir Leid!", mein Bruder hob entschuldigend die Hände, „Ich dachte nur, weil du ja anscheinend alleine stark genug bist Vampire zu erledigen..."
Ich unterbrach seinen Erklärungsversuch: „Das liegt daran, dass Gestaltwandler natürliche Feinde der Vampire sind. Ihre Aufgabe ist es, Vampire zu jagen und zur Strecke zu bringen. Ich bin für euch ungefährlich.
„Du bist also ein Schmusekätzchen?", fragte einer meiner Kolosseumsbekanntschaften mit einer besonders losen Zunge.
Mein Schatten fauchte ihn böse an, doch äußerlich verzog ich keine Miene, trotzdem schreckte er, oder eher sein Schatten vor mir zurück.
Kein Wunder, sein Schatten war ein Luchs und meinem Jaguar somit unterlegen.
Jeremy spannte sich an, als mein Schatten zu fauchen begann, entspannte sich aber sofort wieder, als er sah, dass ich keine Anstalten machte auf den jungen Mann loszugehen.
„Darf ich jetzt?", fragte ich und sah meinen Bruder fragend an.
Er nickte.
Zum Glück war es hier ziemlich dunkel, ob ich mir das nicht irgendwie zu Nutze machen konnte? Ein kleines Späßchen zwischendurch kann ja nicht schaden.
Ich grinste, als sich eine Idee in meinem Kopf bildete.
„Achtung!", rief ich, nahm Anlauf und sprang von der Plattform.

Ich hörte, wie einige erschrocken Luft holten und ein paar Mädchen einen erstickten Schrei losließen.
Vorsichtig beugten sich einige über den Rand um nach mir zu sehen, doch natürlich war ich dort nirgendwo zu finden.
Ich musste zugeben, diese ganze „Ich-verschwinde-in-der-Dunkelheit"-Sache, war wirklich eine der besten Nebenwirkungen meines neuen Lebens.
„Ähm, Jeremy?", fragte einer, der nach mir gesehen hatte und sich jetzt aufrichtete, „das wird dir nicht gefallen, aber sie ist...weg."
„Was meinst du mit 'weg'?", fragte mein Bruder und lief ebenfalls zum Rand um darüber zu schauen, „Cas?! Cas wo bist du? Alles in Ordnung?", rief er leicht panisch.
Jetzt war mein Auftritt gekommen.
Ich sprang von der Plattform über ihnen, von der aus ich das ganze Geschehen beobachtet hatte und landete geräuschlos auf dem Vorsprung. Mein Bruder kniete noch immer am Abgrung und starrte nach unten.
Alle anderen, die sich auf dem Vorsprung befanden wichen respektvoll zurück, als ich an ihnen vorbei auf Jemy zulief, jedoch brachte keiner von ihnen einen Ton heraus.
Jetzt stand ich genau hinter meinem Bruder und verzog meinen Mund zu einem Grinsen.
„Ähm, Jer, ich glaube du solltest mal...", begann Will meinen Bruder auf mich aufmerksam zu machen.
Doch bevor mein Bruder reagieren konnte stupste ich ihn mit der Schnauze in den Rücken, er verlor das Gleichgewicht und fiel von dem Vorsprung.
Ich sprang hinterher, da ich mich abgestoßen hatte war ich schneller als er und schaffte es somit, unter ihm zu sein, bevor er auf dem Boden aufkam, er landete auf meinem Rücken und mit ihm zusammen sprang ich über die Vorsprünge zurück zu den anderen. Dort kletterte er von meinem Rücken und starrte mich wie die anderen auch mit offenem Mund an.
„Also das war echt eine überflüssige Aktion!", meinte er, als er sich wieder gesammelt hatte.
„Ob wir irgendwie mit ihr kommunizieren können?", fragte Lucy und trat einen Schritt näher, dabei streckte sie vorsichtig eine Hand aus, damit ich daran schnuppern konnte.
Als ob ich ihr ansonsten die Hand abbeißen würde!
Ich rollte mit den Augen.
„Naja, ihr könntet es zum Beispiel einfach mal mit sprechen versuchen.", erklärte ich dann, woraufhin Lucy erschrocken einen Satz rückwärts machte.
„DU KANNST SPRECHEN?!", riefen alle im Chor.
'Immer wieder die gleichen blöden Fragen!', seufzte ich gedanklich.

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