45. Kapitel: Taubheit und Blutrausch

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Halb rannte, halb stolperte ich durch den nächtlichen Wald.
Ich hatte kein Ziel, ich wollte einfach nur weg.
Weg von dem was geschehen war, weg von Jacob, weg von diesem Monster, dass ihn mir genommen hatte, weg von diesen Gedanken, die noch immer auf mich einströmten, sowohl meine eigenen, als auch die des Rudels.
Vergangenheit.
Ich wollte zurück.
Zurück in eine Zeit bevor dieses Monster geboren worden war und mein Leben zerstörte.
Zurück zur Hochzeit, um Edward und Bella zu warnen oder ihnen wenigstens ein Kondom zu geben!
Zurück auf unsere Weltreise, um zu verhindern, dass wir wieder zurück kommen.
Zurück zu meinem Bruder, um einfach dort zu bleiben
Zurück nach Griechenland, um zu verhindern, dass Jacob und ich zusammenkommen.
Zurück nach Deutschland, von wo ich einfach nie hätte zurückkehren sollen.
Zurück in den Sandkasten, um Bella mit meinem Sandschäufelchen zu erschlagen!
Ich hatte nicht darauf geachtet, wohin mich meine Füße getragen hatten, doch als ich mich jetzt umsah erkannte ich den Ort wieder. Es war der Ort in den Bergen, wo uns Viktoria angegriffen hatte. Der Ort, an dem ich Yuki gefunden hatte.
Ich trottete zu dem Vorsprung, von dem ich sie damals gerettet hatte und rollte mich darauf zusammen.
Vergessen. Ich wollte einfach vergessen.
Wieder schaute ich auf den Platz, an dem wir im Juni gekämpft hatten.
„Hätte ich damals doch einfach nur zugelassen, dass Viktoria sie tötet!", dachte ich verbittert, „Dann wäre jetzt alles besser."
Stundenlang lag ich einfach da und starrte auf einen zufällig ausgesuchten Stein, ich schaltete mein Denken aus, kappte jede telepathische Verbindung zum Rudel und verstärkte meine Mauer um meine Gedanken, damit auch Leah nicht mehr durch kam.
Sie würden mich nicht finden, wenn ich es nicht wollte.
Langsam dämmerte es.
Seit ich hier her gekommen war hatte ich mich nicht bewegt, nur diesen einen Stein in Grund und Boden gestarrt.
Eine einzige Frage geisterte schon die ganzen Stunden durch meinen Kopf.
'Warum?'
Na gut, das war nicht die einzige Frage, aber sie war Bestandteil jeder einzelnen Frage, die mir durch den Kopf ging.
Bewegungslos lag ich da, tat nichts, dachte nichts.
Ich gab mich einfach dem Schmerz und der Verzweiflung hin, die mich schon seit Jacobs Offenbarung zu überrollen drohte.

Ich sah Yuki, irgendwie hatte sie mich gefunden.
Sie stupste mich an, leckte mir über das Gesicht, sah mich mit flehenden Augen an.
Ich reagierte nicht, nahm sie nicht war, obwohl ich sie sehen konnte, da war nur dieser Schmerz, dieser Verrat.
Plötzlich verschwand Yuki.
Ich weiß nicht, wie lange sie weg war.
Zeit spielte keine Rolle.
Sie tauchte wieder auf und zog einen toten Wapiti hinter sich her.
Was hatte sie damit vor?
Sie legte ihn vor mir ab.
Stupste mich wieder an und bat mich so zu essen.
Aber ich wollte nicht.
Regungslos blieb ich liegen und fixierte weiter meinen Stein.
Irgendwann gab Yuki es auf mich zum Essen zu überreden, stattdessen legte sie sich zu mir und kuschelte sich an mich, das war ihre Art mich zu trösten.

Es war hell.
War es noch immer hell?
Oder schon wieder?
War das überhaupt relevant?
Nein.
Eigentlich war es mir egal.
Alles war mir egal.
Nichts hatte noch Bedeutung.
Nichts, außer der Hass, den ich jedes Mal verspürte, wenn ich an dieses kleine Biest dachte.
Dieses Monster, dass ich noch nicht einmal kannte, das ich aber trotzdem hasste.
Weil es mir meinen Jacob genommen hatte, weil es einen Teil meines Lebens zerstört hatte.
Natürlich wusste ich, dass niemand etwas für diese Prägung konnte, schon gar nicht dieses Neugeborene.
Aber wem konnte ich sonst die Schuld geben?
Ich seufzte.
Vielleicht war ich selbst schuld.
Ohne Prägung eine Beziehung mit einem Gestaltwandler eingehen, der noch dazu hoffnungslos in ein dummes Menschenmädchen verliebt war, das mit einem Vampir verheiratet war.
Es war doch vorauszusehen, dass das bei Katastrophe enden musste!
Gut, keiner konnte mit einem Halbvampir rechnen, aber die Gefahr, dass er oder ich sich irgendwann prägen würde bestand von Anfang an.
Ich seufzte erneut.
Niemand, niemand hatte Schuld.
Man konnte eine Prägung nicht beeinflussen.
Ich setzte mich auf und verließ meine tierische Gestalt, irgendwie wollte ich gerade nicht in einem Jaguarkörper stecken.
Yuki schaute mich verwundert, aber glücklich an.
„Hey, meine Kleine!", sagte ich zu dem, fast ein Meter großen Jaguar und kraulte sie hinter den Ohren.
Ich sollte mir wirklich einen anderen Spitznamen überlegen, der passte ja so gar nicht, schließlich war sie jetzt schon knapp 30 cm größer als normale Jaguare.
Ich selbst war als Jaguar etwa 1,5 Meter groß, und damit ca 10 cm kleiner als als Mensch. Wenn man meinen Kopf noch dazu nahm war ich in Jaguargestalt sogar fast 1,80!
Yuki deutete mit dem Kopf auf den noch immer daliegenden toten Wapiti, der nicht mehr ganz so frisch war.
„Nein danke!", murmelte ich, „Ich bin nicht hungrig."
Yuki gab eine Art Fiepen von sich und legte den Kopf schief.
„Komm her!", sagte ich, ließ meine Beine über den Rand des Vorsprungs hängen und zog Yuki's großen Kopf und Vorderpfoten auf meinen Schoß.
Die Stille, und die Tatsache, dass ich Yuki gedankenverloren streichelte war plötzlich irgendwie beruhigend.
Ich hatte immer noch Yuki.
Sie würde mich nie verlassen.

„Oh mein Gott, Cacy! Ich hab dich endlich gefunden!", rief Leah erfreut und machte sich sofort daran, den Vorsprung zu erklimmen.
„Hey Leah.", begrüßte ich sie matt.
„Ich habe fast drei Tage nach dir gesucht!", redete sie aufgeregt, „Wie hast du es geschafft dich so lange zu verstecken?"
„Keine Ahnung. Reine Willenskraft. Vielleicht bist du auch einfach nur schlecht im Spurenlesen. Yuki hat nicht so lange gebraucht.", erklärte ich.
Sie setzte sich neben mich an den Abgrund.
„Cacy, ich kenne dich gut genug um zu wissen, dass du jetzt kein Mitleid willst, also werde ich dir keinen 0-8-15 Schrott a la 'Es tut mir so Leid für dich' loswerden. Aber ich weiß wie du dich fühlst.", sagte sie traurig.
Stimmt.
Sie hatte ja ziemlich genau die gleiche Situation mit Sam erlebt.
„Ich weiß, dass es hart ist. Und ich weiß auch, dass es leider nicht so schnell besser werden wird. Schon gar nicht, wenn du mit ihm in einem Rudel bist, immer seine Gedanken und seine Schuldgefühle ertragen musst, das macht es nur schlimmer.", sagte sie und ich war mir nicht ganz sicher, ob sie noch über mich redete.
„Keine Angst. Das mit dem Rudel ist kein Problem.", sagte ich trocken.
Leah schaute mich fragend an: „Was meinst du?"
„Ich meine, dass ich seine Gedanken nicht hören muss, weil ich nicht mehr in seinem Rudel bin.", erklärte ich monoton.
„Du gehst wieder zurück zu Sam?", fragte sie traurig, aber auch verständnisvoll.
„Nein.", erwiderte ich, „Ich gehöre keinem Rudel mehr an. Ich bin wieder für mich, so wie es früher war."
Yuki grummelte missmutig.
Ich schmunzelte: „Nur ich und Yuki.", verbesserte ich mich, „Außer sie will lieber bei Jacob bleiben, dann ist das schon okay."
Yuki schaute entsetzt auf und gab ein kurzes Knurren von sich.
„Anscheinend nicht.", stellte ich fest.
„Also gehst du wieder nach LaPush?", fragte sie weiter, „Nach Hause zu deinen Eltern?"
Ich schnaubte: „Nein. Seit ich wieder da bin, habe ich mich dort nicht einmal zu Hause gefühlt. Es ist nicht mehr wie früher, meine Eltern reden nicht mehr mit mir, noch weniger als zuvor und falls doch, schreien sie mich an. Ich habe keinen Grund dort zu bleiben. Es ist wie ein Leben mit Fremden.", erklärte ich.
„Also wirst du wieder Hals über Kopf abhauen?", schlussfolgerte Leah.
Ich schüttelte den Kopf: „Nein. Diesmal nicht."
„Was wirst du dann tun?", fragte Leah.
„Ich weiß es nicht, vorerst werde ich bleiben. Vielleicht werde ich schon in einer Woche abreisen, vielleicht erst in einem Jahr. Aber wenn ich es tue, will ich es planen, nicht wie letztes Mal mit Jacob.", sagte ich schulterzuckend.
„Aber wenn du nicht zu deinen Eltern zurück willst, wohin gehst du dann?", fragte sie verwirrt.
„Ich hatte überlegt die Cullens zu fragen, ob ich eine Zeit lang bei ihnen wohnen könnte.", erklärte ich ihr.
Ich spürte Leahs Blick auf mir und sah auf.
Ihr Blick war...ungläubig? Fassungslos? Verständnislos? Entsetzt?
Vermutlich eine Mischung aus allem.
„ZU DEN CULLENS?!", schrie sie fast.
„Ja.", sagte ich schlicht.
„Aber...du willst allen Ernstes zu der Familie ziehen, zu der die neue Geprägte von deinem Exfreund gehört? Sag mal was geht denn in deinem Hirn vor?!", fragte sie entsetzt.
„Leah. Ich bin nicht der Typ der seinen Problemen den Rücken kehrt und einfach wegläuft. Das war ich noch nie und das werde ich auch niemals sein.", versicherte ich ihr.
„Ähm. Wenn du niemand bist, der vor seinen Problemen wegrennt, warum sitzen wir dann hier auf einem Felsvorsprung mitten in der Pampa?", forschte sie nach.
Ich rollte mit den Augen: „Ja okay. Ich bin weggerannt. Aber ich brauchte Zeit zum nachdenken und Schock verarbeiten und so. Aber jetzt gehe ich meinen Problemen mit offenen Armen entgegen!", versprach ich ihr.
Na gut, falls die Probleme mir auf die Nerven gingen würden sich die offenen Arme vielleicht zu Fäusten ballen.
Aber hey.
Der gute Gedanke zählte!
„Man Cacy!", jammerte Leah plötzlich, „Was würde ich dafür geben deine Gedanken lesen zu können um einmal deine verkorksten Gedankengänge und die daraus resultierenden, noch viel verrückteren Ideen nachvollziehen zu können!"
„Sei lieber froh, dass du nicht dauerhaft meinen 'verkorksten Gedanken' ausgesetzt bist, sonst würdest du noch so enden wie ich und das könnte ich nicht verantworten!", witzelte ich.
„Aber Cacy", sagte Leah plötzlich wieder ernst, „Das geht wirklich nicht, dass du bei den Cullens einziehst!"
„Und was soll ich sonst machen?!", seufzte ich.
So wirklich begeistert war ich von meiner Idee nämlich auch nicht.
„Na du kommst mit zu mir!", schlug sie vor, „Es ist sicher kein Problem, früher haben wir doch auch praktisch beim jeweils anderen gewohnt!"
Ich schaute Leah an und überlegte kurz.
„Na gut", sagte ich schließlich und Leah fing an zu grinsen, „Dankeschön!"
„Supi!", rief sie und sprang auf, „Ich gehe gleich meiner Mutter Bescheid sagen!"
„Okay. Wir kommen dann später nach!", rief ich ihr hinterher, da sie schon dabei war, die Felsen nach unten zu klettern.
„Also Yuki, wie es aussieht ziehen wir demnächst bei Leah ein!", erklärte ich der genüsslich schnurrenden Großkatze, „Aber das dürfte für dich wohl nichts neues sein, das hast du wahrscheinlich auch getan, während ich weg war."

„Na dann lass uns mal gehen!", sagte ich nach einer Weile zu Yuki und erhob mich.
Yuki knurrte und spitzte die Ohren.
„Ach Yuki, du kannst ja gleich wieder schlafen, wenn...", ich stockte und sah in die Richtung, in die Yuki ihre Ohren gedreht hatte.
Ich lauschte ebenfalls.
„Gehör des Jaguars", flüsterte ich und spürte wie meine Ohren plüschig wurden.
Ich hörte Füße, die beinahe über den Boden flogen.
'Vampir!', schoss es mir sofort durch den Kopf.
Noch ein Paar Füße.
Es waren zwei.
Und sie kamen auf mich zu.
Sie preschten durch den Wald.
Ich spannte mich an, machte mich dazu bereit, mich notfalls zu verteidigen.
Der erste Vampir machte einen Satz und landete vor mir auf dem Vorsprung.
„Bella!", sagte ich überrascht, „Wie ich sehe hast du die Verwandlung abgeschlossen!"
„Vorsicht Cacy! Bella ist...", rief Edward, der angerannt kam und mit etwas Abstand stehen blieb, um Bella nicht zu bedrängen.
„...auf der Jagd!", beendete ich seinen Satz.
Bella knurrte mich an.
„Bella!", sagte ich ruhig, „Komm zu dir, du willst das nicht!"
Erneut knurrte sie.
„Sie hat gerade schon gejagt, ihr Durst sollte nicht so schlimm sein! Einem Wanderer konnte sie vorhin widerstehen!", teilte mir Edward mit.
„Gejagt? Gerade eben?", hakte ich nach.
„Vor einer halben Minute!", meinte er.
Ich schüttelte den Kopf.
„Sie ist in einem Blutrausch. Das kann jedem Vampir passieren, aber am häufigsten ist es bei Neugeborenen, vor allem bei denen, die ansonsten eine sehr gute Selbstbeherrschung haben!", erklärte ich und ging in Verteidigungsstellung.
„Davon habe ich noch nie gehört! Was machen wir jetzt?", fragte er.
„Nichts. Es gibt nichts was wir tun können. Sie wird mich angreifen, sie kann nicht anders. Sie muss selbst wieder zur Besinnung kommen.", antwortete ich.
„Hast du damit schon Erfahrung? Wie kann sie das schaffen?", erkundigte er sich fast schon panisch.
„Manchmal funktioniert es, wenn sie ein paar Minuten kein Blut bekommen, dass der Rausch vorbei geht. Andere muss man töten und wieder zusammensetzen, damit sie aus ihrem Blutrausch wieder erwachen.", sprach ich aus Erfahrung.
„Na dann hoffen wir mal, dass es beim Ersteren bleibt.", murmelte Edward.
Während unserer gesamten Konversation hatte ich mich, außer meinen Mund, kein Stückchen bewegt, das hätte sie nur alarmiert.
Yuki hatte sich mir angepasst und ebenfalls ruhig neben mir gestanden.
„Yuki", flüsterte ich, „Wenn ich 'los' sage, dann rennst du so schnell du kannst zu Edward, in Ordnung? Sobald du dich bewegst wird sie angreifen, ich will nicht, dass sie dich verletzt. Sie ist eine Neugeborene, mit der kannst du es noch nicht aufnehmen."
Ich hörte wie Yuki zustimmend, aber ängstlich, fiepte.
Ich atmete tief ein: „Los!", rief ich Yuki zu, sie machte einen Satz und kraxelte den Hang hinunter.
Währenddessen sah ich aus dem Augenwinkel Bella auf mich zusprang, ich machte mich klein und rutschte zwischen ihren Beinen durch.
In der kurzen Sekunde in der sie mich aus den Augen verloren hatte explodierte ich, im Angesicht der unmittelbaren Gefahr, ähnlich wie es die Wölfe immer taten.
Mein Schatten platzte aus mir heraus und pulsierte kurz um mich herum, bevor er sich an mich schmiegte, das alles dauerte nicht länger als eine halbe Sekunde und als Bella sich zu mir umdrehte stand ich ihr als großer, schwarzer Jaguar gegenüber.
Ich hatte schon Mal mit durchgedrehten Vampiren im Blutrausch zu tun. Meine üblichen Tricks, die ich bei den Kämpfen mit Paul oder Emmett anwandte, waren hier nicht sehr wirkungsvoll. Ich kämpfte mit einem Tier. Einem außerordentlich starken Tier, das weder dachte wie ein Mensch, noch verstand, wenn man ihm etwas sagte.
Ein Monster, bestehend aus Instinkten und Blutdurst.
Wenn ich gewinnen, oder zumindest überleben wollte, musste ich denken wie ein Tier und handeln wie ein Tier.
Ich ließ mich komplett in meinem Schatten fallen und überließ ihm die Führung.
Mein einziger Gedanke, bevor ich mich in den Kampf warf, war: „Überlebe!"  


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