3. Blind

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Eine Hand strich mir über die Wange, vorsichtig als wäre ich zerbrechlich. Ich hielt mich an dieser Berührung fest, klammerte mich an sie wie ein Ertrinkender an die rettende Leine. So zog ich mich daran hoch, merkte schließlich, dass ich kurz davor war, die Oberfläche zu durchbrechen. Ich wusste, dass es dieses Mal anders war als die letzten Male, als ich zwar bei Bewusstsein gewesen war, meinen Körper aber nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Dieses Mal würde ich vollständig aufwachen. Und diese Gewissheit half mir schließlich, den letzten Schritt zu tun, die letzte Bewegung auszuführen um aus dem Reich meines Unterbewusstseins in die reale Welt überzutreten. Und in dem Moment, in dem ich meine Hand bewegte, wusste ich, dass ich das bereits viel früher hätte tun sollen, dass ich bereits viel zu lange in meinen Gedanken gefangen gewesen war, doch es nie geschafft hatte. Aber dieses Mal schaffte ich es. Ich bewegte langsam, vorsichtig meine Hand, testete aus, wie weit ich die Kontrolle über meinen Körper zurückerlangt hatte. Als ich meinen Arm leicht hob, was zugegebenermaßen noch recht anstrengend, aber möglich war, hörte ich, wie jemand am Fußende meines Bettes scharf die Luft einsog. 

»Stegi?«, flüsterte eine Stimme, ich erkannte sofort den kratzigen Ton meines Vaters. 

»Papa«, antwortete ich kaum hörbar. Mir war es egal, dass ich in diesem Moment wie ein kleines Kind klang. Ich war wach und ich hatte meine Familie wieder. Das war alles was zählte. 

»Oh mein Gott, Stegi. Du bist wach. Ich werde sofort deine Mutter anrufen, sie wird so erleichtert sein. Sie wird gleich kommen und deine Schwester auch. Ich werde in der Schule anrufen. Stegi, du bist wach.« Ich nickte schwach. 

»Oh Stegi, ich bin so froh, das glaubst du gar nicht. Wir hatten alle solche Angst um dich. Die Ärzte. Wir müssen den Ärzten Bescheid geben. Sei so lieb, drückst du bitte den roten Knopf auf der Fernbedienung, dann kommt sofort eine Schwester.« I

ch wusste, dass der letzte Satz nicht an mich gerichtet war und hörte neben mir auch gleich eine Bewegung, als die angesprochene Person nach der Fernbedienung griff. Die gleiche Person, die mir eben die Wange gestreichelt und mich somit aus meinem Nichts geholt hatte. Es dauerte einen kurzen Moment, bis ich erkannte, dass mein Vater gesagt hatte, dass er meine Mutter und meine Schwester sofort rufen wolle, folglich also keine der beiden die Person neben mir sein konnte. Wer war es dann? 

»Papa, wer...?«, wollte ich meine Frage in Worte fassen, doch mein Vater unterbrach mich sofort, er schien meine Frage bereits zu erahnen. 

»Tut mir leid, Stegi. Wir haben allen Bescheid gegeben, was passiert ist. Er hat gesagt, er wäre ein guter Freund.« 

Ich wollte gerade fragen, wer denn nun die Person neben mir, die Person, die ein guter Freund meiner sein sollte, sei, doch diese Person kam mir zuvor: 

»Stegi. Ich bin es. Erkennst du mich?« Die Stimme war tief und ruhig und tatsächlich kannte ich sie gut, hätte sie unter tausenden wiedererkannt. 

»Tim«, hauchte ich 

»Stegi, es tut mir so leid. Du hattest dich von einem Tag auf den anderen nicht mehr gemeldet, ich war krank vor Sorge. Irgendwann kam diese Nachricht. Ich hatte so Angst um dich.« Tim hatte meine Hand gegriffen und drückte sie fest, die Berührung tat mir unfassbar gut. 

»Welche Nachricht?« »Wir haben an all deine Kontakte geschrieben, was passiert ist, damit niemand sich noch mehr Sorgen macht«, erklärte mein Vater sofort, 

»Ich hoffe, das war okay?« Ich nickte nur schwach.

In diesem Moment ging eine Tür rechts von mir auf und ich hörte Schritte hereinkommen. 

»Guten Abend. Ich sehe, der Junge ist aufgewacht. Sehr schön.« Mein Vater stand auf und ging zwei Schritte, es klang tiefer als die Schritte der dritten Person. 

»Guten Abend, Stegi. Ich bin Doktor Bider, dein behandelnder Arzt Wie geht es dir?« Die Stimme klang gleichmäßig und melodisch, als der Fremde sich jetzt direkt an mich wandte, ich war mir sicher, sie schon mal gehört zu haben. Auf seine Frage hin zog ich bloß leicht die Schultern nach oben. Wie sollte es mir schon gehen, nachdem ich gerade mit einer Augenbinde in einem fremden Zimmer aufgewacht war? 

»Du wirst dich sicher fragen, wozu deine Augen verbunden sind. Was ist das letzte, woran du dich erinnerst, bevor du ins Koma gefallen bist?« Ich bin also im Koma gelegen. Eigentlich überraschte mich diese Information wenig, ich hatte mir bereits meinen Teil gedacht. Aber das letzte, woran ich mich davor erinnern konnte, war der Brand, die Explosion. Ich erzählte dem Arzt davon. 

»Wie du schon erzählst, hat es in eurem Haus gebrannt. Du konntest aus den Flammen geborgen werden, nachdem du durch die Explosion eines der Elektrogeräte ohnmächtig geworden warst. Das ist jetzt drei Wochen her, jegliche Verbrennungen sind inzwischen geheilt. Aber leider haben dich Teile des Explodierenden Gerätes an beiden Augen getroffen und deine Netzhaut beschädigt. Ich muss dir leider mitteilen, dass du blind bist.« 

Er sprach noch weiter, doch ich hörte ihm nicht mehr zu. All meine Gedanken waren bei einem Wort hängen geblieben. 

Blind. 

Blindes Vertrauen ~ #StexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt