23. Gedanken

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Tim zog mich gerade durch die Menschenmassen, wir waren inzwischen in der belebten Fußgängerzone, auf der Suche nach einer Badehose für mich, immernoch hatte Tim meine Hand nicht losgelassen. Natürlich tat er das nicht, ansonsten stände ich auch ziemlich aufgeschmissen mitten in der Einkaufspassage und hätte keine Ahnung, wie ich nach Hause käme. Erst jetzt wurde mir wirklich bewusst, wie abhängig ich von Tim war und wie sehr ich ihm vertraute. Und im Gegensatz zu meinen Eltern machte es mir bei ihm kaum etwas aus, mehr oder weniger auf ihn angewiesen zu sein. Ich meine, wir sind beste Freunde, er würde mir jederzeit helfen, auch wenn ich nicht... behindert wäre, außerdem scheint es wirklich nicht so, als würde er mich deswegen mit anderen Augen sehen oder herablassender behandeln... Wohingegen es mir einfach nur peinlich ist, wenn meine Mutter andauernd um mich rumschwirrt und mich nichts alleine machen lässt. Ich bin blind, nicht dumm und durchaus in der Lage, eine Küche zu betreten, ohne mir gleich alle Finger abzuschneiden und mir den ganzen Körper am ausgeschalteten Ofen zu verbrennen. Oder den Tisch zu decken. Vier oder fünf Teller zu tragen überfordert mich wirklich nicht. Ich hätte nie geglaubt, dass ich es ernsthaft einmal vermissen würde, im Haushalt helfen zu müssen, den Tisch zu decken, die Spühlmaschine auszuräumen oder einfache Nudeln mit Fertig-Tomatensauce zu kochen... obwohl das ja eher aufwärmen als kochen war. Aber noch schlimmer, als andauernd zu so einem Mist verdonnert zu werden war, wenn einem nicht einmal mehr dieser einfachste Mist zugetraut wurde. Inzwischen bekam ich selbst immer öfter das Gefühl, vieles nicht zu können, probierte es nicht einmal. Wahrscheinlich war es besser so, bevor ich mich irgendwann ernsthaft verletzte. Das wollte ich meiner Familie und meinen Freunden, zumindest denen die noch geblieben waren, also eigentlich fast nur Tim, nicht auch noch antun. Ja, Tim. Der mich gerade immernoch durch die Fußgängerzone zog. In seiner Gegenwart dachte ich weniger daran, was ich nicht könnte oder sollte, er gab mir oft das Gefühl, alles schaffen zu können. Nunja, fast alles. Wenn ich mit ihm zusammen war, wurde ich unvorsichtiger und begann, wieder verrücktere Sachen zu wagen, so wie jetzt. Naja, 'wieder zu wagen' traf es nicht ganz. Ich war immer schon der Stille gewesen, der unauffällige, der nie irgendeinen Mist mitmachte. Ich wurde in der Schule weder gehasst noch geliebt. Den meisten fiel ich gar nicht auf und die, die um meine Anwesenheit wussten, blendeten mich wohl ziemlich schnell aus. Mich hatte das nie gestört, mir war es ganz recht, wenn ich nicht im Mittelpunkt stand, je mehr Leute einen kannten, desto mehr Leute konnte man enttäuschen. Ich war sehr erstaunt gewesen, wie viele meiner Klassenkameraden und Bekannten mir tatsächlich geschrieben hatten, als mein 'Unfall' bekannt wurde, tatsächlich aber gehörte ich zu genau den Leuten, gegen die niemand etwas hatte, ganz einfach, weil niemand sie sonderlich kannte. Man unterhielt sich Mal oberflächlich vor der Stunde oder tauschte sich über Hausaufgaben aus und ging dann wieder auseinander, ohne einen bleibenden Eindruck beim jeweils anderen zu hinterlassen. Wenn man nochmal irgendetwas von dieser Person mitbekam, dachte man sich vielleicht 'Ach ja, den kenne ich. Der geht in meinen Kurs. Scheint ganz in Ordnung zu sein' und dann ist das Thema beendet. Genau so ein Mensch war ich. Zumindest Fremden gegenüber. Wenn ich mit meinen Freunden zusammen war, sowohl mit den anderen YouTubern auf TS oder mit meinen 'echten' Freunden, war ich um Welten anders. Dann kam der kleine, hyperaktive Junge mit der großen Klappe zum Vorschein, der immer einen frechen Spruch parat hatte. Genauso in den Aufnahmen, wenn ich einfach ohne Druck reden konnte. Niemand hätte hinter dem aufgeweckten, süßen, immer fröhlichen Youtuber byStegi mich vermutet, den ruhigen, höflich lächelnden Stegi, der nie besonders auffiel und nie besonders hervorstach. Mit meinen Freunden aus der Schule hatte ich tatsächlich so gut wie gar keinen Kontakt mehr, es waren eh nicht viele gewesen, zwei oder drei wirkliche Freunde vielleicht, der Rest waren eher so... Bekannte. Und nächstes Jahr, wenn sie alle ihren Abschluss hatten und anfingen, zu studieren oder eine Ausbildung zu machen, würde ich wahrscheinlich erneut die 12. Klasse und mein Abi angehen, um dann... ja, um dann was zu machen? Keiner würde einen Blinden anstellen, ich würde keinen Ausbildungsplatz und keine Arbeit finden. Schnell verdrängte ich diesen unangenehmen Gedanken wieder, ich wollte mir den schönen Tag mit Tim nicht verderben lassen.

Der schien auch gerade einen Laden gefunden zu haben, in den er schauen wollte, denn apprupt änderte sich dir Richtung, in die er mich zog. Ich lachte auf.

Auf einmal spürte ich, wie etwas oder besser gesagt jemand meine Schulter striff und mich rammte, so dass ich das durch meinen fehlenden Sehsinn sowieso schon beeinträchtigte Gleichgewicht verlor und taumelte, bevor Tims freie Hand mich am Oberarm packte und mir wieder Halt gab.

»Sag Mal, spinnst du?«, brauste er sofort auf.

»Faggots«, hörte ich nur die Stimme eines Jungen zischen, ich schätzte ihn etwa auf unser Alter, nicht viel älter, was durch seine Wortwahl nur noch bestätigt wurde.

»Du entschuldigst dich, aber sofort«, fuhr Tim ihn an und ich drückte besänftigend seien Hand, wollte nicht, dass er sich aufregte und sich mit jemandem anlegte.

»Schwul oder was?«, versuchte der Fremde Tim ganz eindeutig zu provozieren.

»Nee, blind«, korrigierte ich und hörte den Jungen stutzen.

»Und selbst wenn es so wäre.«, ergänzte Tim, wobei er aber offenließ, was wäre, wenn es so wäre. Der Fremde erwiderte nichts

»Und jetzt verpiss dich«, forderte Tim ihn auf und zog mich weiter. Ich musste grinsen. Es tat gut, den Mund aufzumachen, nicht alles auf sich sitzen zu lassen und sich zu wehren, auch wenn ich das ohne Tim an meiner Seite nie gewagt hätte.

»Danke«, grinste ich und er wuschelte mir kurz durchs Haar. Empört schlug ich seine Hand weg.

»Tiiim, meine Frisur«, jemmerte ich, bevor ich mir selbst durch die Haare fuhr, besorgt, wie ich jetzt aussah.

»Passt schon wieder, Stegi. Siehst gut aus«, lachte er und zog meine Hand aus meinen Haaren. Ich wusste nicht, warum, aber etwas lösten seine Worte in mir aus und mir wurde warm ums Herz. In diesem Moment war ich mir sicher, dass er mir immee helfen würde und wir alles gemeinsam schaffen würden.

Alles.


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Hayho zusammen und erstmal sorry, dass das Kapitel heute so spät kommt. Ich hatte um acht, was ich sonst immer so als Upload-Zeit angestrebt hatte, noch nicht einmal angefangen. Nunja, ich habe mir für dieses Kapitel jetzt eine dreiviertel Stunde Zeit gegben und habe beschlossen, einfach so viel zu schreiben, wie ich bis dahin hinbekomme. Ich hoffe, es passt trotzdem, sind 1036 Wörter geworden... Und brandneu, gerade bin ich fertig geworden und direkt hochladen.

Der versprochene OS kam heute Nachmittag um 15:45 ungefähr online, hier der Link für euch:  (https://www.wattpad.com/story/68013306-varo-%7E-stexpert) Wer will, kann ja Mal vorbeischauen.

Danke an euch nochmal für so wahnsinnig viele Aufrufe, Favoriteneinträge und Kommentare, auch wenn ich mir manchmal tatsächlich wünschen würde, dass der ein oder andere vielleicht Mal kommentieren würde. Von inzwischen 86 Leuten, die die Geschichte auf Fanfiktion.de favorisiert haben, und einigen, die sie hier regelmäßig lesen, schreiben gerade einmal ungefähr 2 - 3 Leute regelmäßig ein Kommentar. Eigentlich schade, oder?

Nunja, ich hoffe, es hat euch trotzdem gefallen, vielleicht liest man (den ein oder anderen neuen?) auch Mal in den Kommentaren oder im OS wieder. Bis dahin einen schönen Abend euch allen!

Liebe Grüße, minnicat3

Blindes Vertrauen ~ #StexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt