42. Sorgen

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Irgendwann war ich unter Tims massierenden Händen, die gleichmäßig über meinen Rücken, Nacken und Schultern strichen, weggedämmert und wurde jetzt von dem Klingeln eines Telefons jäh wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt. Orientierungslos richtete ich mich etwas auf und drehte den Kopf in alle Richtungen, um das Geräusch zu orten, doch Tim strich mir beruhigend über den Kopf und Murmelte, ich solle liegen bleiben, bevor er sich von mir löste und aufstand. Schritte. Dann hörte das Klingeln abrupt auf und ich konnte Tims angenehm tiefe Stimme »Hallo?« murmeln. Das Telefon war so laut eingestellt, dass ich die Stimme am anderen Ende der Leitung hören konnte, während Tim langsam wieder auf mich zukam und sich neben mich auf das Bett fallen ließ.

»Hallo Tim. Ich hoffe, ich störe nicht?«, hörte ich blechern eine nicht unbekannte Stimme, wenn auch durch das Telefon etwas verzerrt. Meine Mutter.

»Ach, hallo. Natürlich nicht.«, antwortete Tim freundlich und gut gelaunt.

»Na, wie geht es euch beiden. Hat Stegi sich gut eingelebt?«

»Ach, ich denke schon. Zumindest habe ich das Gefühl, dass er sich ganz wohl fühlt«, antwortete Tim verschmitzt und legte mir sanft einen Arm um die Hüften.

»Er sitzt gerade neben mir. Soll ich dich Mal eben weitergeben, dann kannst du ihn selbst fragen?«, bot er an. Seit wann duzte er eigentlich meine Mutter? Und woher hatte sie Tims Festnetznummer?

»Stegi?«, sprach Tim mich an und ich brauchte kurz, bis ich realisierte, was er wollte und meine Hand aufhielt, damit er das Telefon reinlegen konnte. Lächelnd hob ich das von seinen Händen leicht gewärmte Plastik an mein Ohr.

»Hallo, Mum«, begrüßte ich sie am anderen Ende der Leitung.

»Stegi, Schatz, wie gehts dir? Hast du dich gut eingelebt?«

»Klar, Mum. Ich fühl mich mega wohl hier.«

»Ach, schön. Wie sieht es aus? Denkst du, wir könnten euch das Wochenende besuchen?«

Ich zögerte kurz, wendete mich fragend etwas Tim zu, der mir bestätigend mit seinem Daumen Muster auf den Rücken zeichnete. Ich spürte seine Hand an meiner und wie er sanft sie zu einer Faust ballte, aus der er bloß den Daumen abspreizte. Behutsam drehte er sie so, dass der Daumen nach oben zeigte.«

»Natürlich, wann wollt ihr kommen?«

»Wie ihr wollt. Würde euch morgen Mittag passen oder ist das zu spontan?«

»Morgen Mittag? Welcher Wochentag ist denn heute?«, fragte ich leicht verplant.

»Stegi...«, tadelte meine Mutter mich auch sofort.

»Samstag«, klärte mich Tim leise auf, während er meinen Daumen ein weiteres Mal nach oben drehte.

»Morgen passt.«, bestätigte ich, »Kommt ihr alle drei?«

»Ja, wir wollen dich doch schließlich alle sehen. Wir vermissen dich, Schatz.«

»Ich euch auch«, versicherte ich ihr, auch wenn es nicht ganz der Wahrheit entsprach. Ich war momentan viel zu glücklich, um Heimweh zu haben. Abgesehen davon, dass ich auch noch nie zuvor Heimweh gehabt hatte. Ich hatte Reisen schon immer als etwas aufregendes gesehen und es nie schlimm gefunden, auswärts zu schlafen. Im Gegenteil.

»Und sonst so? Du verstehst dich immer noch so gut mit Tim? Oder habt ihr euch schon gestritten?«, fragte sie leicht besorgt weiter. Ich musste unwillkürlich lächeln und drehte mich zu Tim um.

»Nein, wir verstehen uns besser denn je«, bestätigte ich überglücklich.

»Du bist jederzeit bei uns willkommen. Das weißt du, Schatz, oder?«

»Natürlich, Mama. Aber ich fühle mich wohl. Wirklich.«, versuchte ich sie zu beruhigen.

»Ach, das freut mich für dich. Ich hoffe doch, du fällst dem armen Tim nicht zu sehr zur Last?«

»Mama!«, empörte ich mich, »Was denkst du eigentlich von mir?«

»Schon gut, Schatz. Ich will bloß nicht, dass du und Tim euch irgendwann nicht mehr versteht. Er ist so ein lieber Junge.«

»Ich weiß«, gab ich leise zu und wurde dabei augenblicklich rot. Allerdings war ich auch ein wenig gekränkt, dass meine Mutter anscheinend dachte, allein meine Anwesenheit könnte Tim so sehr belasten, dass wir uns nicht mehr vertragen würden. Dass unsere Freundschaft daran kaputt gehen würde. Und zugegebenermaßen nervte es mich auch, dass sie Tim so hochlobte. Klar, Tim war einfach super und unbeschreiblich toll, aber sie schwärmte ja schon fast von ihm. Ich hatte beinahe das Gefühl, dass sie ihn selbst ganz gerne zum Sohn gehabt hätte. Tja, Pech, sie hatte nunmal nur mich. Und keinen perfekten Tim.

»Ach, Stegi. Pass bitte trotzdem auf dich auf. Ich will nicht, dass du irgendetwas tust, wobei du dir weh tun kannst. Du weißt, dass du nichts mehr so einfach machen kannst wie früher.«

Da war sie wieder. Die besorgte Mutter, die mir nichts zutraute. Die mich für vollkommen lebensunfähig hielt. Es tat weh, zu hören, wie wenig sie mir zutraute. Im selben Atemzug aber verstärkte Tim aber seine Bewegungen in meinem Rücken, um mich deutlich zu machen, dass er noch immer da war. Tim war nicht so. Tim glaubte an mich, glaubte, dass ich alles schaffen konnte, auch blind. Er wusste, dass ich alles schaffen konnte. Und ja, er hatte recht. Wenn ich nur wollte, konnte ich alles schaffen. Oder zumindest fast. Und wenn meine Mutter das nicht sah, dann hieß das noch lange nicht, dass sie Recht hatte. Es hieß nicht, dass ich aufhören musste, an mich zu glauben.

»Keine Sorge, Mum, ich mache nichts, was ich nicht schaffen kann.«, beruhigte ich sie seufzend. Und es war nicht einmal gelogen. Ich machte nichts, was ich nicht schaffen konnte. Aber ich konnte alles schaffen.

»Sehr gut. Und ansonsten? Wie geht es deinen Augen? Tun sie manchmal noch weh? Und gehst du schon wieder zur Therapie?«

»Mienen Augen geht es schon lange wieder gut. Da tut nix mehr weh. Und ja, Tim zwingt mich wieder zur Therapie. Bis jetzt war ich aber erst einmal da.«

»Sehr gut. Stegi, du weißt, wie wichtig das ist. Ich brauch dir das hoffentlich nicht sagen, du bist ja keine zwölf mehr.« Dann hör doch auf, mich so zu behandeln.

»Ich weiß, Mum. Du hast mir schon mit zwölf nicht mehr sagen müssen, was ich tun musste.«

»Ich weiß, Schatz. Du warst schon immer so unglaublich selbstständig. Ich bin so unglaublich stolz auf dich.«, erwiderte sie und deutlich konnte ich die Trauer aus ihrer Stimme heraushören. In diesem Moment konnte ich ihr einfach nicht mehr böse sein, für nichts. Sie machte sich bloß Sorgen um mich, hatte Angst. Und deswegen bat sie mich immer, so vorsichtig zu sein. Deswegen hielt sie mich von allem in ihren Augen Gefährlichen ab. So wie sie mich, als ich gerade schwimmen gelernt hatte, nie ins tiefe Becken hatte gehen lassen wollen. Sie hatte zwar gewusst, dass ich es theoretisch konnte, aber trotzdem noch Angst gehabt. Und all diese Sachen, vor denen sie nun Angst hatte, dass sie mir schaden konnten, waren nun das tiefe Becken. Aber ich hatte keine Angst mehr vor Wasser.

Ich konnte schwimmen.

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Hayho, Leute!

Jaaaa, da kommen dann wohl Stegis Eltern zu Besuch.

Was haltet ihr von dem Kapitel? Feedback immer gerne in die Kommentare :)

Wenn ihr mehr von mir lesen wollt: Ich habe mit der lieben @Schneestern37 zusammen ein Gedicht geschrieben. 

https://www.fanfiktion.de/s/571a10a00004f29c3a387b7b/1/Apoll-und-Daphne

Würde mich freuen, wenn ihr es euch ansehen würdet! Ich finde, es ist ganz gut geworden. :)

Liebe Grüße, minnicat3

Blindes Vertrauen ~ #StexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt