49. Nervosität

2K 167 32
                                    

»Bereit?«, hörte ich Tims Stimme und spürte seine Hand, die mir sanft über den Rücken strich. Es klang so wahnsinnig kitschig, aber ich liebte es. Ja, auch wenn die Situation noch so kitschig war, liebte ich sie. Liebte diesen Moment wie jeden, den ich mit Tim verbrachte.

»Bereit«, antwortete ich leise, auch wenn ich mich nicht im Geringsten so fühlte. Es war so weit. Ein weiterer großer Schritt nach vorne, in die Zukunft. Eine weitere Weggabelung an unserem gemeinsamen Weg, von der so viel abhing. Welcher Weg würde unsere sein? Akzeptanz, Verständnis? Oder Ungläubigkeit, Ausgestoßenheit, Ekel? Ich bemühte mich, tief und gleichmäßig zu atmen, im Takt der Hand, die immer noch über meine Schultern strich. Tim bewegte sich, ging einen Schritt nach vorne, ich hörte eine Klingel.

»Keine Angst, Kleiner«, beruhigte Tim mich, bevor ich weitere Geräusche wahrnahm. Leise, gedämpft, aus dem Haus, vor dem wir standen. Aus Tims Elternhaus. Jemand polterte eine Treppe herunter, eine Holztreppe. Ein Geräusch, das ich noch vor ein paar Wochen niemals hätte zuordnen können, jetzt aber sofort erkannte. Ich hatte gelernt. Gelernt, klarzukommen, auch ohne meine Augen. In diesem Moment hörte ich, wie die Tür vor uns aufgerissen wurde und mit einem lauten »Tiiiiiim« hörte ich das Rascheln von Klamotten und Tims leises, melodisches Lachen. Ich kam mir etwas fehl am Platz vor. Einige Sekunden später nahm ich wieder Bewegungen von Tim war und spürte seine Hand an meinem Nacken, die mich zu ihm zog. Sein Arm blieb auf meinen Schultern liegen.

»Stegi, das ist Max, mein kleiner Bruder. Max: Stegi, mein Freund.«

Ich versuchte gerade nervlich darüber hinwegzukommen, dass Tim mich gerade offiziell vor seinem Bruder, der immerhin Teil seiner Familie war, seinen Freund genannt hatte. Er hatte darauf bestanden, offensiv vorzugehen, gleich von Anfang an das liebenswürdige Pärchen raushängen zu lassen und zu warten, bis wir darauf angesprochen wurden. Er meinte, so würde uns das viel peinliches Gestotter ersparen. Trotzdem war es merkwürdig, nun so kurz davor zu stehen, seine Eltern zu treffen. Die Eltern meines Freundes kennenzulernen. Tausend Klischees spukten in diesem Moment in meinem Kopf rum. Die biestigen Schwiegereltern, die keiner mochte, die konservativen Eltern, die alles, was nicht der Norm entsprach nicht akzeptierten, die Homophoben, die keine andere Sexualität akzeptieren konnten, die... Stopp. Nein, Tims Eltern waren bestimmt nicht so, wie ich es mir eben in meiner Panik ausmalte, bestimmt waren sie ganz liebe, bodenständige, aufgeschlossene Menschen, wenn sie so einen Sohn großgezogen hatten. Ganz sicher sogar.

»Hallo, Max. Schön, dich mal zu treffen«, sprach ich frei darauf los und wirkte dabei sicherer als ich war.

»Hi, Stegi«, kam es schüchtern von dem Jungen, der eben noch so überdreht in die Arme seines Bruders gesprungen war.

»Max, du hast schon ein paar Mal mit Stegi gesprochen, wenn wir geskypet haben früher«, erinnerte Tim ihn und ich nickte bestätigend, wobei ich versuchte, meinen Blick in die Richtung zu fixieren, aus der die Stimme des Jüngeren kam. Obwohl Max über sechs Jahre jünger war als ich, schien er ungefähr meine Größe zu haben. Schien wohl in der Familie zu liegen.

»Lasst uns Mal reingehen, hmmm?«, unterbrach Tim die etwas unangenehme Situation und ich nickte erleichtert. Auch Max konnte ich wieder ins Haus gehen hören. Seine Schritte waren ungewohnt, sehr leicht, sehr leise und er schien einen federnden Gang zu haben, fast schon zu hüpfen. Das kam wahrscheinlich von der Wiedersehensfreude. Stumm ließ ich mich von meinem Freund durch die Haustür ziehen, die er hinter mir schloss. Ich war viel zu nervös, um auch nur einen Ton herauszukriegen. Sanft fuhren Tims Hände über meine Arme bis zu meinen Schultern, meinen Kragen. Vorsichtig zog er etwas an der Jacke.

»Darf ich?«, fragte er weich und ich nickte, ließ mir aus der Jacke helfen. Tim nahm sie mir ab und schien sie irgendwo aufzuhängen oder abzulegen, ich war viel zu nervös, um genauer darauf zu achten. Als er sofort wieder nach meiner Hand griff, war sie auf jeden Fall verschwunden.

Blindes Vertrauen ~ #StexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt