29. Vorschlag

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Die Woche war unendlich langsam vergangen und es kam mir vor wie Jahre, bis endlich wieder Freitag war. Ich hatte mich den ganzen Tag auf Tim gefreut, jedoch wurde ich jäh enttäuscht. Etwa eine Stunde bevor Tims Zug hätte eintreffen sollen, ich wartete schon ungeduldig wie ein junger Hund darauf, endlich Schuhe und Jacke anziehen zu können, um ihn mit meinem Vater zusammen abholen fahren zu können, rief meine Mutter mich zu sich, um mir die Hiobsbotschaft zu überbringen: Tim würde nicht kommen. Nicht heute, nicht mehr am Freitag, erst am nächsten Tag. Ich war entgeistert, sie konnte mir nicht einmal sagen, warum. Wütend rannte ich in mein Zimmer, ignorierte die Fragen meiner Schwester, schmiss mich auf mein Bett, vergrub mein Gesicht in meinem Kissen und... weinte. Erst als ich mich beruhigt hatte, schnappte ich mir mein Handy vom Nachttisch und rief Tim an, um ihn zur Rede zu stellen. Er wirkte zerknirscht, als er abnahm, doch im Hintergrund konnte ich laute Stimmen hören. Sofort erfüllte mich eine merkwürdige Mischung aus Wut und Trauer. Ich war nicht dumm, auch wenn das niemand zu verstehen schien, anscheinend nicht einmal Tim. Ich hatte mich in ihm getäuscht. Ich hatte gedacht, er würde in mir immer noch den Freund sehen, den er kennengelernt hatte und mich für das halten, was ich tatsächlich war. Aber anscheinend stimmte ja nicht einmal das. Es war Freitag Abend und anscheinend wollte er diese Zeit lieber anders verbringen als mit einem behinderten Spasten in einer fremden Stadt in einer fremden Wohnung. Und das Schlimmste war, dass ich ihm noch nicht einmal Vorwürfe machen konnte. Also schwieg ich nur und hörte mir seine schier endlosen Entschuldigungen und Versprechen an. Und trotz allem konnte ich nicht anders als zuzustimmen, als er mir versicherte, er würde dafür am nächsten Tag ganz früh, schon am Vormittag kommen. Auch wenn er mich enttäuscht hatte, auch wenn er lieber woanders als bei mir war, ich brauchte ihn und alles in mir weigerte sich, ihn abzulehnen. Da das Telefonat ziemlich einseitig aus seinen Entschuldigungen bestand, dauerte es viel kürzer als gewohnt. Und außerdem war er ja nicht alleine, wahrscheinlich feiern mit seinen Freunden oder derartiges. Als ich mein Handy weglegte war ich einfach nur enttäuscht und schließlich weinte ich mich spät abends sogar lautlos in den Schlaf.

Am nächsten Morgen war ich vollkommen erschöpft aufgewacht und als meine Mutter mich aufforderte, mich fertig zu machen, da sie bald losfahren wolle, um Tim zu holen, dieses Mal wirklich, lehnte ich zu ihrer Verwunderung ab. Inzwischen war sie unterwegs und würde wohl jeden Moment zurückkommen, während ich gerade nur regungslos auf meinem Bett saß und wartete. All die Zeit bewegte ich mich keinen Zentimeter, auch als sich schließlich die Haustür öffnete und ich Tims Stimme meinen Vater begrüßen hörte, rührte ich mich nicht.

»Tim ist da«, wies mich meine Schwester auf das Offensichtliche hin. Als ich nicht auf sie einging, konnte ich sie beinahe vor mir sehen, wie sie genervt mit den Schultern zuckte. Schließlich ging unsere Zimmertür auf und ich hörte Tims so vertraute Schritte vorsichtig eintreten.

»Hi, Tim«, begrüßte meine Schwester ihn, kaum dass sie ihn bemerkt hatte und ich hörte, wie sie sich aufrappelte und sie sich umarmten, während auch er sie begrüßte. In mir zog sich etwas zusammen. Schließlich kündigte meine Schwester an, uns alleine zu lassen und verließ tatsächlich darauf das Zimmer.

»Stegi?«, fragte Tim vorsichtig und kam auf mich zu, kniete sich vor mich hin. Ich antwortete nicht, bewegte mich kein Stück.

»Stegobert. Bist du sauer?«, erkundigte er sich besorgt und griff vorsichtig nach meinen Händen.

»Ach komm, Stegi, rede mit mir. Bitte«, flehte er mich fast schon an, während er sich jetzt neben mir auf der Matratze niederließ. Ich wollte nicht, konnte nicht mit ihm reden. Hätte ich ihm geantwortet, wäre ich wohl sofort in Tränen ausgebrochen. Er hielt mich doch auch nur für einen behinderten Nichtsnutz, eine Plage. Und wahrscheinlich hatten sie alle sogar recht, wahrscheinlich war ich das sogar. Wortlos fiel ich ihm um den Hals und drückte mein Gesicht gegen seine Schulter, konnte die Tränen nun doch nicht mehr zurückhalten. Seine warme, feste Umarmung, die mich hielt und in meinem Gefühlschaos aufzufangen schien, beruhigte mich und ließ mich entspannen. Sofort musste ich wieder daran denken, wie wir uns geküsst hatten, ich ihn geküsst hatte und wollte mich verlegen von ihm lösen, doch er ließ es nicht zu und zog mich nur noch fester an sich.

Blindes Vertrauen ~ #StexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt