Vorurteile

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Ich hörte ein zaghaftes Klopfen an der Zimmertür.

„Lia? Bist du da?"

Ria. Was tat sie hier?

Ich antwortete nicht.

Das Türschloss klackte leise, als meine Schwester in den Schlafsaal der Zweitklässler eintrat.

„Ich weiß, dass du da bist!"

Ich schwieg weiterhin. Ich konnte ihre Schritte hören, wie sie den Raum nach mir absuchte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mich finden würde.

Ich saß in einem geräumigen Kleiderschrank, der vollkommen unberührt war. Die anderen hielten sich von ihm fern, weil er manchmal so komische Geräusche machte, doch ich fand ihn eigentlich ganz gemütlich. Besonders, nachdem ich ein paar flauschige Decken und Kissen hinein platziert hatte, war es ein toller Ort, wenn man einfach mal seine Ruhe haben und nachdenken wollte.

„Es tut mir leid."

Ich hob verwundert den Kopf. Ria tat etwas leid?

„Ich..."

Sie verstummte und mit kleinen Tapsen kam sie auf mein Versteck zu. Kurz blieb sie davor stehen, dann öffnete sie die Tür einen Spaltbreit.

„Können wir wenigstens reden?"

Ich zuckte mit den Achseln. Ria nahm das als ein „Ja", kletterte zu mir hinein und schloss den Schrank wieder.

Eine peinliche Stille trat ein. Ria räusperte sich schließlich.

„Ich hab Blödsinn geredet, vorhin."

„Ja, hast du in der Tat."

Ich hatte keinesfalls vor, es ihr als zu leicht zu machen. Sollte sie doch zappeln.

„Es ist nur so..., ich wollte schon immer ein Abenteuer. Ich weiß, dass das gefährlich ist, und mein Kommentar über Reinblüter war bescheuert, du hast Recht."

Sie sah zu mir hin. Ihre großen Augen sahen mich so lieb an, dass ich lächeln musste.

„Aber das mit Draco, das habe ich nicht verstanden!"

„Er ist..., nein, das ist mir nur so raus gerutscht. Er ist vollkommen okay", sagte ich. Ria schien erleichtert.

„Cool. Ich geh dann mal wieder! Tschau", lächelte sie und verschwand aus meinem Schrank.

Sobald die Tür zu war, ließ ich meinen Kopf leicht zurückfallen. Ich hatte Ria gerade ermutigt, weiterhin mit diesem Trottel befreundet zu sein? Warum hatte ich es getan?

Ganz konnte ich es nicht sagen, aber ich vermutete, dass es an ihrem treuenherzigen Blick gelegen hatte.

Naja, sie würde ja noch früh genug begreifen, was für ein Mensch er eigentlich war.


In der nächsten Woche erfuhren nach und nach alle Schüler ungefähr, was es mit der Kammer des Schreckens auf sich hatte. Den Legenden nach war es eine geheime Kammer unter Hogwarts, errichtete von Salazar Slytherin, einem der Gründer von Hogwarts, nach dem auch unser Haus benannt war. Weiter hieß es noch, nur der wahre Erbe Slytherins könne die Kammer öffnen und das Monster darin freisetzten, dass die ganze Schule von Muggelgeborenen reinigen sollte.

Mit diesen Nachrichten verbesserte sich unser Ruf als Slytherins nicht unbedingt, ganz und gar nicht. Alle schienen uns noch mehr zu hassen.

Als ich eines Tages die Große Halle betrat, wollte ich sie sofort wieder verlassen. Hunderte hasserfüllte Blicke waren auf den Slytherin-Tisch und alle, die darauf saßen, gerichtet.

Ria stürmte auf mich zu und sah mich mit großen Augen an.

„Was haben die alle?"

Ich wusste es zwar, sagte aber noch nichts laut, sondern wechselte nur einen düsteren Blick mit Lewis.

Doch Ria war auch nicht dumm.

„Sie geben uns die Schuld daran."

Es war eine nüchterne Feststellung, doch ich, als jemand, der sie schon lange kannte, sah dahinter noch mehr. Ria war zutiefst erschüttert und verletzt. Wer konnte es ihr auch verübeln?


Für einige Wochen gelang es mir noch, über all die hässlichen und verletzenden Beleidigungen hinweg zu sehen, aber es kam der Tag, wo meine Geduld zu Ende war.

Eine besonders vorlaute Sechstklässlerin aus Gryffindor kam, während ich gerade in der Bücherei Hausaufgaben machte, mit einer Gruppe Mitschüler auf mich zu. Wie zufällig stieß sie mein Tintenfass um, und meine gerade erst beendete Reinschrift des Astronomieaufsatzes war ruiniert.

Ich knurrte gereizt und funkelte die Gryffindor böse an.

„Du könntest dich wenigstens entschuldigen!"

Sie lachte bloß verächtlich.

„Wenn's dir nicht passt, hau doch ab. Wir sind ohne euch Slytherins sowieso besser dran!"

„Denkt ihr", sagte ich und stand auf.

„Ja, denken wir. Wir alle. Wir wissen, dass es eure Schuld ist, dass die Kammer des Schreckens wieder offen ist. Ich meine, wie offensichtlich ist es? Kammer von Slytherin, Erbe von Slytherin, ich frage mich, warum Dumbledore nicht einfach alle Slytherins rausschmeißt."

Wahrscheinlich war das der Moment, wo ich meine angestaute Wut einfach nicht mehr zurückhalten konnte. Wie dem auch sei, innerhalb einer Millisekunde hatte ich meinen Zauerstab gezogen und fauchte einen Zauberspruch, von dem ich erst kürzlich gelesen hatte.

„Locomotor Mortis!"

Die Beine der Schülerin klappten zusammen und sie fiel mit dem Gesicht voraus um. Beinklammerfluch.

Für einen wunderbaren Augenblick durchströmte das Gefühl von Triumph meinen Körper; was allerdings sofort wieder verflog, als nur eine Minute später eine tobende Professor McGonagall vor mir stand.

„Ein Angriff! In der Bibliothek! Ich hätte das nicht von Ihnen gedacht, Miss Greengrass!"

„Aber Professor! Sie hat mich beleidigt!"

Erst als ich es aussprach, wurde mir bewusst, wie erbärmlich das klang. Also wollte ich noch weiter erklären, doch die Lehrerin ließ mich nicht weiter reden.

„Genug! Sie können sich jetzt entscheiden, ob sie Ihrem Haus fünfzig Punkte abziehen wollen, oder lieber Strafarbeit auf sich nehmen. Nun?"

Ich seufzte schicksalsergeben.

„Strafarbeit."

„Gut. Ich habe mir schon gedacht, dass Sie das sagen würden. Innerhalb der nächsten Tagen wird Ihnen Ort und Aufgabe der Strafarbeit mitgeteilt."

Ich nickte. Wann konnte ich endlich gehen?

„Und jetzt gehen Sie in den Unterricht."

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich stürmte aus dem Klassenzimmer und machte mich auf den Weg in den Unterricht von Verteidigung gegen die Dunklen Künste.

Innerlich tobte ein Sturm in mir. Warum hatte ich bloß die Beherrschung verloren? Normalerweise rühmte ich mich immer damit, dass nichts und niemand mich aus der Fassung bringen konnte. Aber ich hatte es dem Mädchen einfach zeigen müssen. Was erlaubte sie sich eigentlich, diese dumme, mit Vorurteilen überladene Kuh?

Trotzdem, ich hatte überreagiert. Das war mir auch klar.

Mittlerweile war ich beim Klassenzimmer angelangt. Zehn Minuten Verspätung. Konnte der Tag noch schlimmer werden?


Um es kurz zu fassen: Er konnte es in der Tat.

A Slytherin's StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt