Okklumentik

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Jetzt, wo der ganze Stress vorüber war, schien es lächerlich, wie sehr wir uns selbst fertig gemacht hatten. Unbeschwert und zufrieden saßen die Schüler am See und holten all die Monate an Entspannung zurück, die durch lernen verloren gegangen waren.

Beinahe gaben wir uns der Hoffnung hin, zum ersten Mal ein Jahr ohne große Vorkommnisse, Gefahren oder Todesfällen hinter uns gebracht zu haben, als eines Tages, kurz vor den Ferien, die Zeitungen uns eines Besseren belehrten.


Ich war schon immer eine Frühaufsteherin gewesen. An besagtem Morgen war ich um halb acht beim Frühstück, was für meine Verhältnisse ziemlich spät war und fing die Zeitung, die mir der Postvogel fallen ließ, auf.

Sofort fiel mein Blick auf die Schlagzeile und genau wie alle anderen, die im selben Moment ihren Tagespropheten erhalten hatte, keuchte ich auf.

Er-Dessen-Namen-Nicht-Gennant-Werden-Darf ist zurück

Und gleich darunter ein anderer Artikel:

Todesser im Herzen des Ministeriums

Ich las eilig beide Beiträge durch. Sehr viel erfuhr man nicht, nur, dass Potter und seine Freunde im Ministerium gewesen waren, dort auf Todesser getroffen waren und Voldemort sich gezeigt hatte, wie zahlreiche Augenzeugen, darunter auch Auroren und der Zaubereiminister höchstpersönlich, bestätigen konnten. Plötzlich wurde von Potter nicht mehr als „der geistesgestörte Junge" geredet. Nein, jetzt war er auf einmal „der Auserwählte".

Manche der Todesser waren gefasst worden, unter anderem auch Dracos Vater. Ich blickte den Slytherin-Tisch entlang und entdeckte Draco sofort. Mit bleichem Gesicht und zu Fäusten geballten Händen saß er vor seinem Tagespropheten. Er hatte es also schon gelesen.

Ich zögerte, machte mich dann auf den Weg zu ihm. Er zeigte keinerlei Reaktion als ich mich neben ihn setzte, sondern stierte nur weiter ins Leere.

„Was willst du?", knurrte er schließlich. „Verschwinde."

Ich öffnete empört den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Wenn er nicht wollte.

„Schön" murmelte ich und stand auf. „Dann eben nicht."


Bald darauf waren die neuen Ereignisse Gesprächsstoff Nummer eins. Um den Potter-Jungen hatte sich ein ganzer Fan-Club versammelt, der ihm regelmäßig seine Unterstützung anboten. Diejenigen, deren Eltern verhaftet worden waren, trafen auf gemischte Gefühle.

Manche gehandelten sie wie Abschaum, andere feierten sie wie Helden. Und dann gab es noch vereinzelte Schüler, wie mich, Ria und Lewis, die sich neutral verhielten.


Schon bald kam das Ende meines fünften Schuljahrs. Gespannt, wie Mum sich verhalten würde, nachdem sie erfahren hatte, dass sie im Unrecht gewesen war, stieg ich aus dem Hogwarts-Express aus und entdeckte sogleich die hochgewachsene, dunkelhaarige Frau.

„Aurelia, Astoria", begrüßte sie uns. Ihr Stimme war nicht mehr so kalt wie beim letzten Mal, doch von warm noch weit entfernt.

Doch dann schloss sie uns überraschend in die Arme. Ria und ich sahen uns über ihre Schultern hinweg an und meine Schwester zuckte mit den Achseln.

„Auch schön, dich wiederzusehen, Mum", sagte sie unbeschwert und ich lächelte.

„Kommt, wir haben viel vor diese Ferien!", sagte Mum voller Energie.

„Was denn?", fragte ich betont fröhlich nach.

Doch in diesem Moment setzte das Gefühl ein, als ob man durch einen engen Schlauch gezogen wurde, und wir apperierten zu dem Greengrass-Anwesen.

„Mum, Camille und Maxime haben mich und Lewis zu sich nach Frankreich eingeladen", sagte ich.

Mum sah mich ein paar Sekunden lang an, dann verzog sie bedauernd das Gesicht.

„Tut mir leid, Schatz, aber jetzt wo Er-Dessen-Namen-Nicht-Genannt-Werden-Darf zurück ist, müssen alle Familien so viele Schutzvorkehrungen wie möglich treffen."

Ich starrte sie entsetzt an.

„Das heißt, ich darf nicht?"

„Nein."

Ich sog empört Luft an und wollte etwas sagen, doch Dad, der aus dem Haus kam, schnitt mir das Wort ab.


Beim Abendessen erzählte Mum uns, was sie mit mir uns Ria vor hatte.

„Zuerst werden wir mehrere Sicherheitsfragen vereinbaren, damit wir sicher sein können, dass niemand von uns ein Todesser ist, der sich getarnt hat."

„Ja, das dauert bestimmt monatelang", murmelte Ria. Auch sie schien über die Aussicht, nicht weg zu kommen, nicht sonderlich erfreut zu sein.

„Nein, das nicht, aber Okklumentik-Stunden."

„Okklumentik?!", fragten Ria und ich wie aus einem Mund.

„Aber das haben wir doch schon gelernt!"

Okklumentik, die Magie, mit der man seinen Geist vor äußerlichen Eingriffen eines anderen Zauberers, eine Art Gedankenlesen, schützen konnte, war eines der vielen Fächer gewesen, die Mum uns vor unserer Hogwartszeit gelehrt hatte. Ich hatte es immer sterbenslangweilig gefunden.

„Euch ist sicher bekannt, dass Ihr-Wisst-Schon-Wer ein begabter Legilimentiker ist", mischte sich Dad ein.

„Sag doch einfach Gedankenleser, kein Grund, uns mit komplizierten Wörtern zu bombardieren", sagte Ria missgelaunt. Sie hasste Okklumentik noch mehr als ich.

„Legilimentik ist nicht Gedankenlesen!", meinte Dad vorwurfsvoll.

„Wie auch immer: Ich will, dass meine Kinder gut gegen jede Art von geistlichen Angriffen geschützt sind und deshalb muss euer Okklumentik-Können etwas verbessert werden."

Ich seufzte, musste ihr aber dieses Mal recht geben. Außerdem würde es sicher nicht schaden.


Zu meiner großen Überraschung gefiel mir der Unterricht. Ich schaffte es schon nach drei Anläufen perfekt, Mum aus meinem Kopf herauszuhalten und es fiel mir noch nicht einmal schwer.

„Sehr gut, Aurelia. Jetzt du, Astoria."

Ria tat sich nicht so leicht. Das lag daran, dass sie ihre Emotionen nicht so gut kontrollieren konnte wie ich, sie war temperamentvoller und sagte immer, was sie wollte – was im Bereich der Okklumentik eine Schwäche war. Ich dagegen hatte mich schon immer beherrschen können.

„Wieso müssen wir das lernen?", fragte meine Schwester gereizt. „Wieso sollte Du-Weißt-Schon-Wer genau meine Gedanken lesen wollen?"

Doch irgendwann hatte sie den Dreh heraus. Es war allerdings schon Mitte August, als das geschah, und jegliche Hoffnung auf einen Urlaub in Frankreich waren vernichtet.


Nun hatte ich aber viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Ich hatte über Voldemorts Rückkehr philosophiert und war dabei wieder zu den seltsamen Sache zurück gekommen, die mir seit der zweiten Klasse immer wieder geschehen waren. Das Tagebuch. Der nicht existente Irrwicht. Wie Nelly mich Lia von Lethe genannt hatte. Und immer wieder dieses Gefühl, ein Deja-Vu zu haben.

Ich wusste nun schon länger, dass ich etwas vergessen hatte, höchstwahrscheinlich durch fremdes Zutun. Und das dieses Etwas mit Voldemort zu tun hatte. Und jetzt, nachdem ich das Thema fast zwei Jahre lang hatte ruhen lassen, wusste ich, dass ich mich erinnern musste. Denn was, wenn es sich um etwas wichtiges handelte? Etwas, dass gegen Voldemort eingesetzt werden konnte? 

A Slytherin's StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt