Viel Lärm um nichts

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Kapitel 31:

„Menschen deuten oft nach ihrer Weise die Dinge, weit entfernt von ihrem Sinn!" - William Shakespeare

Das Klingeln des kleinen Türglöckchens erfüllte vertraut den Verkaufsraum, als ich mit Schwung eintrat und mich danach zusammengesunken zur Theke schleppte.

Ein ordentlicher Kaffee und dann Videos schneiden. Irgendwie produktiv sein, etwas Nützliches vollbringen, arbeiten. Arbeiten und bloß nicht nachdenken.

Wie war ich nur auf die dämliche Idee gekommen, Flo wolle mich gestern Abend tatsächlich küssen? Weshalb schien Schule schon immer die Position meines persönlichen Folterknechtes innezuhaben? Warum konnte ich mich einfach nicht dazu überwinden, meine Mutter nach all den Jahren um Verzeihung zu bitten? Wieso hatte ausgerechnet mein Vater damals sterben müssen und nicht dieses betrunkene Arschloch, was den Unfall verursacht hatte?

Sie fraßen sich durch jeden meiner Gedankengänge. Nachdem ich aus der Schule gestürmt war, ließen sie mich ziel- und planlos durch Berlin irren. Gaben mir das Gefühl, ein abscheulicher Systemfehler zu sein, der ein Fremdkörper in seinem eigenen Leben war. Es war nicht so, dass sie erst jetzt auftauchten, plötzlich unerwartet aus dem Nichts kamen. Sie waren immer da gewesen. Fragen auf die ich in meinem Leben nie eine Antwort bekommen würde. Warum mögen mich die anderen Kinder nicht Papa? Was hat jeder gegen Kreuzberg? Menschen sind dumm und Kinder sind grausam. Entsprach man nicht der Norm, wurde man unweigerlich von der Gesellschaft geächtet. Ein Teufelskreis aus dem ich niemals ausbrechen würde, geschweige denn könnte. Kreuzberg, Höchstbegabung, kulturell interessiert, Halbwaise. Error 503 Service nicht verfügbar, nicht kompatibel.

Sozial nicht kompatibel.

In den vergangenen sechs Jahren hatte ich gegenüber Em, Zack und Nikkie nie auch nur ein Wort bezüglich meines Vaters fallen lassen. Wozu auch? Er war, lange bevor ich sie kennengelernt hatte, gestorben. Wir hatten ja auch nie explizit darüber gesprochen, dass Em und Finn nur Halbgeschwister waren, dass Nikkies Eltern seit über zehn Jahren einen leidenschaftlichen Rosenkrieg auf den Rücken ihrer Kinder austrugen oder dass Zacks Vater regelmäßig fremdging. Manche Dinge waren eben einfach so wie sie waren. Punkt und Aus. Jeder auf dieser Welt hatte sein Päckchen zu tragen und wir gehörten nun mal alle nicht zu der Art von Menschen, die mit ihren den Weihnachtsmann mimten und sie fröhlich an alle Leute auf der Straße verteilten. Wenn man über etwas nicht sprach, konnte man es besser ignorieren und wenn man etwas ignorierte, bekam man irgendwann das Gefühl, es existiere gar nicht. Wenn ich nicht darüber sprach, war mein Vater nicht tot, er existierte bloß einfach nicht. Nur noch manchmal, wenn sie nach oben krochen und meinen Mageninhalt in Blei verwandelten, mir jegliche Kompetenz zum selbstständigen Denken absprachen, mich müde machten von allem und jedem, die Fragen auf die ich niemals eine Antwort bekommen würde, nicht in diesem Leben. Und wenn sich ihre Schlinge dann immer enger um meine Brust zog und mir den Atem raubte, bestand jederzeit die Möglichkeit mich mit Arbeit zu zuschütten. Alternativ mit billigem zwei Euro Wein, währenddessen in irgendeiner zwielichtigen Ecke in Kreuzberg rumzuhängen und so zu tun, als würden mich die Probleme der anderen Anwesenden kümmern, obwohl ich schon seit zwei Stunden viel zu besoffen war, um überhaupt noch klar denken zu können oder ich mich viel zu sehr für mich selbst interessierte. Später hatte irgendwann immer das kleine Glöckchen vertraut geklingelt, als ich in die Bäckerei getaumelt war und Heiko anschließend den frisch gewischten Boden vollgekotzt hatte. Mit fünfzehn hatte diese Art von Problembewältigung durchaus ihren Reiz auf mich ausgeübt.

Ich wusste schon wieder nicht, wie oder wann und vor allem nicht warum. Vielleicht ja aus einem spontanen Anflug von Nostalgie und dem dringenden Bedürfnis der Stellung meines Vaters als Packesel der Nation nachzueifern, was die Sache mit den Problemen Anderer anging. Tatsache war, dass ich jetzt mit Schürze und Lappen bewaffnet durch die Backstube huschte, als hätte es das letzte Jahr nicht gegeben und ich würde nach wie vor hier arbeiten.

If you're going through hell, keep going (LeFloid FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt