Kapitel 40:
"Selbst wer sonst nie mit der Schrift betraut gewesen, kann die Schuld in meinen Augen lesen." - William Shakespeare
Mein Leben war ein Hamlet-Cospaly, es wäre auch keinesfalls eine dreiste Übertreibung, es als DAS Hamlet-Cosplay schlechthin zu betiteln.
Ja, man mag es zwar immer noch für mehr als nur ketzerisch oder gar frevelhaft halten, dies zu glauben, aber auf diesem Planeten sollten tatsächlich so unumstößliche Fakten existieren, die selbst ich mit meinem durch und durch ewig besserwisserischen Maul nicht vermochte abzustreiten.
Nun ja und die Tatsache, dass mein Leben am Ende des Tages immer mehr einer Tragödie des Barden (*) himself glich, spielte in jene Kategorie von Dingen.
Je länger ich vom Fenster aus meine Mutter mit Argusaugen beobachtete, als sie unser Haus verließ, um ihre Schicht in der Notaufnahme der DRK-Klinik anzutreten, desto tiefer krallten sich meinen Nägel in den hölzernen Belag der Fensterbank. So sehr, dass die Knöchel weiß hervortraten und zwei Nägel splitterten, aber das war im Moment so bedeutungslos, dass es mir nicht einmal auffiel. Sie hatte mich nicht gesehen, selbstverständlich nicht. Wenn man sich aus dem Gefängnis schlich, war niemand so blöd, stehen zu bleiben und sich mit einem, vor Melancholie tränenden Auge, zur persönlichen Hölle umzudrehen.
Die Blicke der Nachbarn aber hatte sie, im Gegensatz zu mir, nicht bloß gesehen. Sie hatte sich von ihnen geradezu zerfleischen lassen. Es handelte sich jeden einzelnen Morgen seit zig Jahren, in denen ich hier oben stand und sie aufmerksam beobachtete, um exakt denselben Spießrutenlauf. Dabei wussten alle miteinander, was hier hinter geschlossenen Türen geschah, ich konnte es jeden verdammten Tag in ihren sensationslüsternen Blicken sehen.
Wiederum ich hatte gesehen, wie sie unter den Blicken der Nachbarschaft die Schultern straffte und sich für jeden einzelnen Gaffer ein sorglos scheinendes Lächeln abrang. Ich bekam keines, ich wusste gar nicht mehr, wie es sich anfühlte, von der eigenen Mutter ehrlich angelächelt zu werden, voller Liebe und Zuneigung.
Damokles schwebte über mir, so bedrohlich tief, dass ich die Kälte seiner Klinge auf meinem Scheitel fühlen konnte und das bei jedem Luftzug, den ich tat. Bis jetzt fünf Tage lang ohne Unterbrechung. Die Worte meines Direktors, die mich über den Friedhof eingeholt hatten, danach an mir klebten wie Pech, hatten sich im Laufe jenen Tages in eine Klinge verwandelt, die bereit war, mich zu richten. Mich zu strafen. Mich bluten zu lassen.
Für all das, was ich getan hatte, beziehungsweise für all das, was ich nicht getan hatte.
Zugegeben, ich war in der Tat kein Fan von Sigmund Freud, höchstens noch von Dr. Froid, was eine sehr schlechte Anspielung und eine andere Geschichte war. Leider Gottes konnte ich ihm keine völlige Inkompetenz unterstellen, denn seine Erkenntnis des Ödipuskomplexes, welcher by the way dem Kronprinzen Hamlet von Dänemark nachgesagt wurde, war heimelig in der Kategorie der Dinge, die faktisch wirklich unumstößlich waren.
Diese lieferte zudem die theoretische Basis für C. G. Jungs 'Elektrakomplex', mit welchem ich nicht nur äußerst sympathisierte aufgrund seiner griech. mythologisch bezogenen Namensgebung. Früher oder später entwickelte man zu allem eine Art der Zuneigung, von dem man wusste, dass man es seinem Lebtag nicht mehr loswerden würde, selbst wenn man sich bei der möglichen Beseitigung keine Arbeit scheute, alles wie einen Unfall wirken zu lassen. Was ich damit eigentlich mitteilen wollte, ist, dass mir ein richterlich gestellter Tobias – mit fundierten Hintergrundwissen seines Fachs – im Alter von zwölf Jahren nicht nur zum wiederholten Male meine Höchstbegabung bescheinigte (den ramponierten Fetzen, den ich herumtrug wie Erzkatholiken ihren Rosenkranz), damit meine Oma das Stipendium für mich durchbekam, gratis zu meinem Happy Meal diagnostizierte er mir auch noch einen ausgeprägten 'Elektrakomplex'.
Der Umstand, dass es ihr tatsächlich vergönnt gewesen war, eine Banane innerhalb der DDR zu erwerben, hatte meine Oma im Alter von vierzig Jahren definitiv mehr umgehauen, als meine verkorkste Psyche im Alter von achtundsechzig schwarz auf weiß unter der Nase zu haben. Dem war an dieser Stelle nichts mehr hinzuzufügen.
Ich war sechseinhalb und so erschrocken von mir selbst, dass ich mich den gesamten Tag über nicht einmal traute, auch nur durch den winzigen Spalt zwischen den beiden Schranktüren meines Kleiderschrankes nach draußen zu linsen. Meine Mutter hatte schon vor Stunden aufgegeben, mich aus meinem Versteck hervorlocken zu wollen und nun saß ich seit den frühen Morgenstunden traumatisiert von meinen eigenen Gedankengängen, vollkommen überfordert in meiner eigens herbeigeführten Isolation.
Was der Auslöser für mein seltsames Verhalten gewesen war, wusste ich heute nicht mehr, mit zwölf beim vorgeschriebenen Beratungsgespräch mit dem, vom Gericht für die Einklage des Stipendiums beauftragten, Psychologen hatte ich es sicher noch bis ins kleinste Detail erzählen können. Vielleicht hatte ich mir ja doch einen Teil des Hirns mit billig Wein und schlechtem Gras ruiniert. Allein die Vorstellung veranlasste mich zu würgen. Ich war doch keinen Deut besser als Sandro gewesen, der feine Unterschied bestand bei uns darin, dass er besoffen nachhause kam und da Leben der Menschen um ihn herum in den Abgrund riss, während ich dazu geneigt war, mich von innen selbst aufzufressen.
Jedenfalls war es mir aber möglich, mich daran zu erinnern, unter schweren Lidern ins grelle Licht zu blinzeln und im Bruchteil einer Sekunde die Stimme meines Vaters zu identifizieren, die zur jetzigen Zeit nur aus einer schemenhaften Vision an eine lautlose Mundbewegung bestand, dafür setzte sich aber ein Nachklang seines unverkennbaren Geruchs in meinen Nasennebenhöhlen fest. Eine eigenwillige Mischung aus Schuhcreme, Fenchel und Bergamotte kribbelte und zwickte in meiner Nase.
„Ich hab Mama nicht so lieb wie dich Papa! Bin ich jetzt ein schlechter Mensch?".
Die Antwort meines Vaters ging unter in dem Getümmel aus Erinnerungssplittern, Bruchstücken einer anderen Persönlichkeit, die sich wimmelnd in den Fokus drängten und mich grob in die Handflächen schnitten, beim bloßen Versuch sie zu greifen.
All diese Gedankenfetzen waren einzig und allein Lichtreflexionen im Schatten, sie blitzten kurz auf, um gleich daraufhin von der wabernden, dunklen Trägheit meiner selbst verschluckt zu werden.
Ich war schlichtweg zu feige, mich mit meiner eigenen Reflexion im Spiegel auseinanderzusetzen, doch allein diese winzigen Splitter, wie sie da stobten und wirbelten, in meinem Abbild reichten aus um mich umzutreiben. Mich in den Wahnsinn zu treiben.
Je mehr ich sie ignorierte, desto aufdringlicher wurden sie, hafteten mir mit Widerhacken an.
Nie in meinem gesamten Leben hatte ich meine Mutter auf dieselbe Art und Weise verehrt wie meinen Vater. Ihr so bedingungslos vertraut, so zu Füßen gelegen. Mein Vater war mein Held.
Ich hörte die Scherben laut knacken, als ich die Straße hinunter rannte. Die entgegengesetzte Richtung zu meiner Mutter. Mir war nicht daran Licht ins Dunkel zu bringen, das war es noch nie gewesen. Kein einziges Mal war ich es gewesen, die die Laterne des Engels zum Leuchten gebracht hatte und ich würde es auch niemals sein. Also rannte ich davon, weg von dem Versprechen, was ich gebrochen hatte, indem ich es hielt.
In mir ächzte die Verachtung dafür, dass sie ihn so schnell ersetzt hatte, mit einem Alkoholiker, damit spuckte sie auf sein Grab.
In mir schrie der Hass, dafür, dass mir das Liebste genommen worden war. In mir wühlte die Wut auf alles und jeden.
In mir rief die Schuld mit den Stimmen aller Menschen, die ich verletzte.
In mir brannte die Angst, dass mein einziges Talent in Lügen bestand. In mir erstickte die Trauer, weil ich ihr die Luft zum Atmen raubte.
In mir weinte das Gewissen, denn ich wusste jetzt:
Ich bin ein schlechter Mensch.
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(*) = andere, gängige Bezeichnung für Shakespeare
Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen, haltet heute und morgen nach Kapitel 41 Ausschau, das ist nämlich auch schon fertig :)
Wie findet ihr die neue Kurzbeschreibung? Besser als die Alte? Lasst unbedingt von euch hören :)
LG
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If you're going through hell, keep going (LeFloid FF)
Fanfiction(LeFloid x OC) Ein geschickt gesponnenes Netz aus Lügen, eine gehörige Portion Sarkasmus, sowie eine Prise Selbstironie und eine effektive Verdrängungstaktik mehr braucht Mel nicht, das selbsternannte menschliche Komplettfiasko, um sich still und l...