Kapitel 4:
„Begegnen wir der Zeit, wie sie uns sucht."- William Shakespeare
Seine Hand umschloss für kurze Zeit die Meine. Innerlich fragte ich mich, wann ich zum letzten Mal jemandem die Hand geschüttelt hatte. Es musste schon eine Ewigkeit her sein.
„Du bist also Melli von VollVerpeilt.", stellte er fest, ich zog meine Hand zurück und meinte dann höflich lächelnd: „Richtig, und du bist LeFloid." Im Stillen hoffte ich, dass damit unser kleiner Smalltalk beendet war und ich verschwinden konnte. Mir selbst war es ein Rätsel, warum es mir seltsam unangenehm war, mit Flo zu reden. Schließlich war er vor ein paar Jahren mein YouTube-Idol und mein erster echter Schwarm gewesen, aber vielleicht war Letzteres auch der Grund für mein Unbehagen.
Forschend lag sein Blick auf mir, meine Augenbrauen zogen sich fast automatisch nach oben, als ich mich wieder auf meine Umwelt konzentrierte und seinen Blick aus den ungewöhnlich dunklen Augen wahrnahm.
„Ähm ja....", nahm er das vermeintliche Gespräch wieder auf, wobei es eher ein Monolog seinerseits war, da ich schon ab dem zweiten Wort nicht mehr zugehört hatte. Während er also seinen Monolog führte, musterte ich ihn. Beim Reden gestikulierte er viel mit seinen Händen und wippte immer wieder mit seinen Zehenspitzen auf und ab, es stimmte, LeFloid war wirklich ein verdammter Zappel-Phillip.
Wie immer hatte er ein für ihn typisches Nerd Shirt an, eine normale Jeans, Sneaker und eine Cap. Man konnte deutlich seine Tattoos erkennen und die Narben von seinem Unfall, mein Blick glitt über seinen linken Arm und blieb an dessen Unterarm hängen, den zwei Kois zierten. Wahrscheinlich sollten die beiden asiatischen Zierfische Ying und Yang darstellen, das hatte irgendetwas mit der asiatischen Kultur zu tun, so viel wusste ich. Bei Gelegenheit würde ich das einmal googeln.
„Gefällt dir mein Tattoo?", ich blickte zu ihm auf, meine Wangen hatten einen rosigen Farbton angenommen, das spürte ich genau, obwohl ich eigentlich zu den Menschen gehörte, die wegen derartiger Kleinigkeiten nicht rot anliefen wie jemand, der für 10 Minuten einen Kopfstand machte. Ein Schmunzeln lag auf seinen Lippen, dieses total süße Schmunzeln, bei dem er seine Nase ein wenig kraus zog, wie auch immer er das hinbekam. Schnell sperrte ich diesen Gedanken weg. „Ja...es ist echt gut gestochen,von wem hast du es stechen lassen?", imaginär klopfte ich mir vor Stolz auf die Schulter, der Satz war mir zwar nur langsam über die Lippen gekommen, aber dennoch ohne Stottern. „Das hab ich in den USA machen lassen bei.....", weiter kam er jedoch nicht, da er von irgendwem einfach weggezogen wurde. Ein Stein fiel mir von Herzen.
Der PC fuhr hoch, während ich es mir auf dem Schreibtischstuhl, der ein Chefsessel mit so einer tollen ergonomischen Rückenlehne war, bequem machte, was gar nicht so leicht war, da ich aufpassen musste, nicht nach hinten umzukippen und stalkte Leute auf Instagram.
Mit ein paar Klicks hatte ich das Schnittprogramm geöffnet, während leise ein Promo von Gestört aber Geil dudelte. Ich war der Meinung, dass man mit Musik viel besser arbeiten konnte, was vielleicht auch daran lag, dass ich die absolute Stille hasste und sie mich tierisch nervös machte. Ab und zu wanderte eine Nuss und ein Schluck Rockstar in meinen Mund. Aus dem großen Gemeinschaftsraum konnte man lautes Lachen hören. Ich musste den anderen noch Bescheid sagen, dass wir heute hier anscheinend nicht drehen konnten und in den Park oder so gehen mussten, zum Glück spielte wenigstens das Wetter mit.
Leise summte ich die Melodie von Let her go von Peer Kusiv mit, als es unvermittelt an der Tür klopfte. „Mhm.", machte ich nur ohne aufzusehen und konzentrierte mich wieder auf das Schneiden. Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, dass Jako im Raum stand. „Was gibt's?", wollte ich wissen und unterbrach für einen Augenblick meine Arbeit. „Wir wollen was beim Inder um die Ecke bestellen, willst du auch was?", „Ne danke.", lehnte ich ab. Jako nickte und ging zur Tür, drehte sich aber nochmal um. „Ist das Promo von September 2013.", antwortete ich bevor er fragen konnte, dann verschwand er wieder zu den anderen.
Diesmal brauchte ich ungewohnt lange zum Schneiden, denn eigentlich brauchte ich durchschnittlich für eine Folge „Let's Verstör Leute" zwei Stunden, mittlerweile waren vier vergangen und ich hörte das Promo nun schon zum 4. Mal. Ich griff nach meinem Handy, schrieb den anderen schnell in die Gruppe, dass wir im Park drehen mussten und erklärte die Lage. Nach kurzer Zeit stand fest, dass wir uns etwa um fünf treffen würden, dann machte ich von Gestört aber Geil SonneMondSterne an und spulte ein bisschen vor. Immer wieder schweifte ich mit meinen Gedanken ab. Wieso war mir Floids Gegenwart derart unangenehm?
Entnervt seufzte ich, als ich endlich fertig mit dem Schneiden war, schnell stellte ich noch bei YouTube ein, wann das Video veröffentlicht werden sollte und leerte im Anschluss meine dritte Dose Rockstar.
Das Mediakraft Büro hatte sich bis auf Robin, Alex, die UWG, die Spackies, Nilam (daaruum), LefLoid und mich vollständig geleert. Erschöpft ließ ich mich neben Felix auf das riesige Sofa fallen.
„Wie wär's, wenn du dich Flo mal vorstellst?", Robin war begeistert von seiner Idee. „Du meinst wie bei so einer Selbsthilfegruppe?", hakte ich belustigt nach, jetzt wo ich Flo nicht mehr gegenüberstand, war ich um kein Wort verlegen, „Jap.", stimmte er zu. Ich zuckte mit den Schultern und räusperte mich: „Mein Name ist Chantal Klein und ich glaube, dass ich ein Alkoholproblem habe.", sagte ich trocken und blickte ernst in die Runde. „Ich bin ein absoluter Til Schweiger Fan und erfahre deshalb jeden Tag physische Gewalt von mehreren Männern aus meinem engeren sozialen Umfeld.", führte ich weiter. Schallendes Gelächter erfüllte den Raum. „Ich bin Melli von VollVerpeilt. Wie du ja schon weißt, habe ein paar seltsame Komplexe unter anderem einen kleinen Faible für Shakespeare und hasse Til Schweiger.", sagte ich dann. „Melli, deine Shakespearemacke ist nicht klein.", widersprach Frodo. „Aber jetzt wird alles gut, du bekommst jetzt Hilfe von Dr. Froid.", meinte er. „Warum habe ich das Gefühl, dass das alles nur noch schlimmer macht?", fragte Sina (FräuleinChaos) in die Runde. „Keine Ahnung.", antworteten Flo und Frodo synchron .
„Vielleicht noch ein Zitat zum Abschluss?", zog Rick, der immer noch nicht wirklich besser aussah als heute morgen, mich auf. „Begegnen wir der Zeit, wie sie uns sucht.", meinte ich daraufhin und sah zu Flo, der mich unverhohlen musterte. Seine Augen durchleuchteten mich fast. Genau das war es, was mich so beunruhigte, ich hatte das Gefühl, dass er durch mich hindurch sehen konnte und das passte mir ganz und gar nicht. Aber wie Shakespeare schon sagte: „Begegnen wir der Zeit, wie sie uns sucht." Stellen wir uns den Problemen der Zeit.
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If you're going through hell, keep going (LeFloid FF)
أدب الهواة(LeFloid x OC) Ein geschickt gesponnenes Netz aus Lügen, eine gehörige Portion Sarkasmus, sowie eine Prise Selbstironie und eine effektive Verdrängungstaktik mehr braucht Mel nicht, das selbsternannte menschliche Komplettfiasko, um sich still und l...